: Die Abwesenheit hinter dem Tor
Seit Jahren beschäftigt sich der bald 80-jährige Künstler Pinhas Golan mit Toren, die unüberwindbare Barrieren zur Vergangenheit darstellen. Seine Arbeiten sind eine Konfrontation mit dem Holocaust
VON WALTRAUD SCHWAB
Nein, um ihn gehe es nicht, nur um seine Kunst, meint Pinhas Golan. Der kleine Mann mit den lebhaften Augen tritt einen Schritt zurück, wenn er nach seinem Leben gefragt wird. Warum? Weil es mit 20 Jahren aufhörte? Und mit 48, als er endlich ein Kunst- und Philosophiestudium aufnehmen konnte, neu begann?
Dieses Jahr wird Golan 80 Jahre alt. Trotzdem arbeitet er weiter – er bearbeitet sein Lebensthema: das versperrte Tor – „the blocked gate“. Seine Bilder und Collagen zu diesem Topos, die auf Initiative des American Jewish Committee zum Gedenken an den 59. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz derzeit am Pariser Platz zu sehen sind, bestechen durch ihre düstere Großzügigkeit. Über dunkle quadratische Flächen hat Golan Holzplanken oder Eisenplatten montiert. Mitunter sind sie von Aluminium ummantelt, ihre Oberfläche geschwärzt, die entstandenen Fugen verstopft, die Planken mit Querverstrebungen verdichtet, mit Zeitungsberichten oder jüdisch-religiösen Texten, die den grafischen Wert von Graffiti bekommen, beklebt. Scharniere sind angedeutet, aber keine Schlüssellöcher. Auf den Bildern wird die Idee eines Tores umgewandelt in jene einer unüberwindbaren Barriere. Die Harmonie der Kompositionen reibt sich an ihrer Bedeutungslast.
Tor zur Unterwelt oder Himmelstor, Tor zur Gaskammer oder Tor zum Hof seiner Kindheit – was sich ausschließt, dies beschäftigt Golan bereits sein ganzes Erwachsenenleben. Jahrelang hatte er Alpträume, in denen er an das Hoftor seiner Kindheit gelangte, und immer, wenn er es öffnen wollte, wachte er auf. Im Traum wusste er, dass er schon oft versucht hatte, es aufzustoßen, und dass es dieses Mal sicher gelingen würde. Vergeblich. Erst seit er begann, sich bildnerisch mit dem versperrten Tor zu beschäftigen, träume er nicht mehr davon.
Nun aber halte ihn die Frage, was hinter dem Tor liegt, am Arbeiten, sagt er. Manchmal nennt er es „die Leere“, manchmal „die Abwesenheit“. Mal hat er versucht, sich ihr durch den Abstand zwischen Tor und Hintergrund zu nähern, mal durch Fugen zwischen den Planken, oder dadurch, dass er das Tor zur Skulptur macht. Dennoch sei er immer daran gescheitert. Hinter dem Tor liege die Vergangenheit. Für sie könne er keine Visionen entwickeln. Und doch hoffe er jedes Mal, wenn er sich wieder dem versperrten Tor stellt, dass er dem Abwesenden nun Form geben könne. Eine Obsession ist es. Als müsse er etwas wieder gutmachen, jemandem eine Zukunft geben, der nie eine hatte.
Golan wurde in einem ungarischen Dorf in eine jüdische Familie geboren. Traditionell erzogen, plagten ihn allerdings die falschen Sehnsüchte: Er wollte Künstler werden. Geldmangel zwang ihn stattdessen, eine Schneiderlehre zu machen. Nach dem Einmarsch der Nazis im März 1944 wurde er zuerst zur Armee eingezogen. Als ungarische Nazis im Oktober 1944 die Macht ergriffen, kam er ins Konzentrationslager Siegendorf in Österreich. Wie sein Vater überlebte er die Zwangsarbeit und den Hunger. Nicht so seine Mutter und seine beiden jüngeren Brüder, die vermutlich in Auschwitz starben. Das zum letzten Mal hinter den dreien zugezogene Hoftor sei jenes, das zu öffnen ihm in seinen Träumen nie mehr gelang, erklärt Golan.
Er will seine Arbeiten als direkte Konfrontation mit dem Holocaust verstanden wissen. Nicht nur die abgebrochene Kontinuität des Lebens versucht er zu thematisieren, sondern auch den Verlust von Heimat, die zerstörte jüdische Kultur. Die Bilder sind für Golan Erinnerungsarbeit. Seine künstlerische Umsetzung, die ihn versperrte Tore gestalten lässt, erinnert an die architektonische Metapher der leeren Räume, die der Architekt Daniel Libeskind im Bau des Jüdischen Museums verwirklichte.
Wie Golan haben viele Holocaust-Überlebende ein halbes Jahrhundert gebraucht, um das erlittene Trauma öffentlich zu machen. Dass er – anders als jene Menschen, die ihre Lebensgeschichten aufschrieben – eine eindrucksvolle künstlerische Bildersprache entwickelt, macht seine Arbeiten stark, seine eigene Geschichte aber mag dies schwächen, denn seine Werke bestehen auch jenseits seiner eigenen Erlebnisse. Das versperrte Tor ist Metapher für den versperrten Zugang zu vielen Möglichkeiten, nicht nur zu seinen persönlichen.
Dass Golan sich langsam an diesen Bruch zwischen Biografie und Kunst herantastet, zeigt sich an „blocked gate V“. Dort wird ein aktuelles Thema aufgegriffen: der Konflikt zwischen orthodoxem Judentum und modernen Weltsichten. Fundamentalismus ist ein Tor, das die dahinter liegende Einsicht versperrt.
An dieser Stelle mag es allerdings verwundern, dass Golan den Jahren von 1948 bis 1972 in seiner Biografie keine bildgebende Bedeutung beimisst. Als er nach dem Krieg seine Mutter und Brüder nicht wiederfand, entschloss er sich, nach Israel auszuwandern. Er war bereit, für einen jüdischen Staat zu kämpfen, und 24 Jahre lang Berufssoldat in der dortigen Armee. Das impliziert die Möglichkeit, selbst Tore für einige geöffnet, für andere jedoch auch versperrt zu haben. Aber, sagt Golan, das spiele für ihn, bezogen auf sein künstlerisches Werk, keine Rolle.
„The Blocked Gate“, bis 9. Februar, täglich 11 bis 17 Uhr, Haus der Commerzbank, Pariser Platz 1