Keine Linie, nirgends

Die SPD rätselt über die Ursachen ihrer jüngsten Krise: Sind die Grünen schuld, die Medien, die Reformen? Nur über den eigenen Anteil spricht sie wenig

VON JENS KÖNIG

Bei Rüdiger Fikentscher kommt niemand auf die Idee, ihn für einen politischen Profi zu halten. Fikentscher wirkt, wie so viele Ostdeutsche, immer noch wie ein Fremdkörper im glitzernden Berliner Politikbetrieb. Der 63-Jährige ist eigentlich Arzt, Promotion A, Promotion B, in der Wende in die Politik gespült, heute im Hauptberuf Vizepräsident des Landtags von Sachsen-Anhalt, im Nebenberuf Vorsitzender des SPD-Parteirats. Kein Mann großer Worte. An diesem Montagnachmittag, nach der Sitzung des Parteirates, lässt er sich die Worte aus der Nase ziehen. Nur unwillig berichtet er davon, dass die Basisvertreter die Arbeit der Regierung heute hart kritisiert hätten. „Ach“, schnauft Fikentscher plötzlich, „diese Kritik ist doch normal. Die höre ich überall, wo ich hinkomme.“ Als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, seine eigene Regierung fertig zu machen. Nein, nein, schiebt Fikentscher noch hinterher, die meisten Sozialdemokraten seien schon bereit, die Reformen mitzutragen, wenn es denn nur eine Linie gebe.

Guter Witz. Eine Linie. Ausgerechnet bei dieser Regierung. Erst Stopp der Pflegeversicherung, dann doch wieder Reform der Pflegeversicherung. Mitte voriger Woche erweckt der Kanzler den Eindruck, den Bürgern fürs Erste nichts mehr zumuten zu wollen. Anfang dieser Woche spricht er schon wieder davon, dass es objektiv unmöglich sei, „den schwierigen Reformprozess so zu gestalten, dass niemand belastet wird“. Was ist das: Ein Strategiewechsel? Schröders Machtinstinkt? Panik?

Olaf Scholz hat viel darüber nachgedacht in diesen Tagen. Das Ergebnis ist – Ratlosigkeit. „Wir haben eine politische Situation in diesem Land, in der jemand damit durchkommt, vier Tage lang abstrakt über Reformen zu reden“, sagt der SPD-General. „Das ist mir schleierhaft.“ Mit „jemand“ meint Scholz natürlich nicht den Kanzler, sondern die Grünen, mit dem abstrakten Reformgerede nicht Schröders Volten, sondern die nicht enden wollenden Warnungen des kleinen Koalitionspartners vor einer „Reformpause“ der Regierung.

Seit Tagen beherrscht dieser semantische Kleinkrieg über Reformen an und für sich jetzt die Berliner Republik. Olaf Scholz schüttelt nur noch den Kopf darüber. „Das hat mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun“, schimpft er. „Hier geht es nur noch um Image.“ Und weil er einmal dabei ist, sich aufzuregen, bekommen die Grünen ihr Fett gleich richtig weg: „Unser hoch geschätzter Koalitionspartner hat doch noch keinem einzigen seiner Wähler bisher wirklich etwas zugemutet.“ Scholz muss hilflos mit anschauen, wie seine Partei ins Bodenlose stürzt, die Grünen so tun, als würden sie in einem anderen Land regieren, und die Politik in einer immer selbstreferenzieller werdenden Mediengesellschaft den Kontakt zu den Menschen verliert.

Diese Analyse ist ja nicht ganz falsch. Seit der Kanzler vorigen Dienstag mit seinem Sinn fürs Populistische die Reform der Pflegeversicherung stoppte, wird die Koalition von einem Streit heimgesucht, der typisch ist für diese rot-grüne Regierung: Er kommt aus heiterem Himmel, verschwindet fast ebenso schnell wieder und hat mit dem Alltag der Bürger nicht das Geringste zu tun. Das Datum der neuesten Versöhnung ist bereits festgelegt: Am 13. Februar kommen SPD und Grünen zu einem Krisengipfel zusammen. Anschließend werden sie verkünden, dass sie natürlich am Reformkurs festhalten werden, dass sie gemeinsam bei Pflege, Rente und Bildung … und so weiter und so fort.

Diese Analyse der virtuellen Reformdebatte ist trotzdem nicht richtig. Der Kanzler höchstpersönlich ist schuld an ihr, weil er die Diskussion mit seinem Satz von der Grenze der Belastbarkeit, die erreicht sei, erst richtig befeuert hat. Schröders SPD ist – genauso wie die Medien – eben Teil der isolierten politischen Elite, nicht deren Opfer. Und der Streit in der Koalition hat ja, bei allem Künstlichen, einen politischen Kern: Die strukturkonservative SPD steckt in der Sinnkrise. Die Parteiführung kann die sozialdemokratischen Mitglieder und Wähler gerade noch von der Notwendigkeit der sozialpolitischen Reformen überzeugen, nicht aber von deren Richtigkeit. Das Sozi-Herz erwärmen kann die SPD-Spitze schon gar nicht. Von handwerklichem Pfusch der Regierung, von überforderten Ministern, von Stolpes Maut, Schilys BKA-Umzug, Schmidts Gesundheitsreform und anderen Glanzleistungen mal ganz zu schweigen.

Die äußeren Anzeichen dieses Erosionsprozesses: fast 40.000 Parteiaustritte allein im vergangenen Jahr. In den Umfragen deprimierende 24 Prozent für die SPD. Die mentalen Auswirkungen: Wut, Verzweiflung, Resignation, wohin man in der SPD auch blickt.

Das erste Opfer wird Thomas Mirow mit seiner Hamburger SPD sein. In der Berliner Parteiführung gehen alle davon aus, dass Mirow die Wahlen gegen Ole von Beusts CDU klar verliert. Und alle befürchten, dass diese Niederlage neue Unruhe, ja sogar eine Panik in der SPD auslösen könnte. Einige Spitzenleute sprechen bereits von einer „Lawine“, die die Partei zu überrollen drohe. Wird Olaf Scholz, der Hamburger, dann gleich oder erst nach der Niederlage bei der Europawahl als Generalsekretär abgelöst? Folgt ihm Sigmar Gabriel? Holt Schröder neue Leute in sein Kabinett? Rebelliert der Nachwuchs dagegen, von der „Generation Schröder“ mit in den Abgrund gerissen zu werden? Spekuliert wird viel in diesen unruhigen Zeiten. Genaues weiß keiner, vielleicht nicht mal der Kanzler selbst. Schön, wenn es wenigstens da eine Linie gäbe.