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Archiv-Artikel

Das Engagement eines Geretteten

Als 10-Jähriger musste Gerhard Leo mit seinen Eltern nach Frankreich fliehen. Mit 19 saß er als Résistance-Kämpfer monatelang in Gestapo-Haft. Heute kämpft der 80-jährige pensionierte Journalist weiter: gegen die Abschiebung von Flüchtlingen in Berlin

von HEIKE KLEFFNER

Gerhard Leo hat schon viele Namen gehabt. Gerard Laban, alias Lebert, alias Adrien Pouzargues, alias Jean-Pierre Ariége. Sein letztes Alias, bevor er wieder den Namen tragen konnte, den seine Eltern ihm vor achtzig Jahren bei seiner Geburt im brandenburgischen Rheinsberg gaben, verliehen ihm die Kämpfer der französischen Résistance, die ihn am 4. Juni 1944 aus den Händen der Gestapo befreiten: „Rescapé“ – der Gerettete.

Die Wachpolizisten am Eingang des Abschiebegefängnisses Berlin-Grünau wissen nicht, dass Gerhard Leo selbst vor über vierzig Jahren monatelang als „Hochverräter“ im Gestapo-Gefängnis bei Toulouse saß. Sie begrüßen den schmächtigen Mann mit den silberweißen Haaren mit ausgesuchter Höflichkeit. Mindestens einmal in der Woche kommt der ehemalige Journalist nach Köpenick, um „seine Gefangenen“ zu besuchen: Abschiebehäftlinge aus Liberia, Algerien oder aus Sierra Leone. Hier hat er sein letztes Alias bekommen: „Papa Leo“.

Über das Kontakttelefon der „Initiative gegen Abschiebehaft“ haben sie den Kontakt zu Gerhard Leo bekommen. Der gelernte Journalist ist mit 80 Jahren bei weitem der älteste in der ehrenamtlichen Gruppe, die den Flüchtlingen und „illegalen Grenzgängern“ medizinische Betreuung und Rechtsanwälte vermittelt. „Ich kenne die Abschiebehaft schließlich aus meiner Zeit in der französischen Emigration. Die Drohung, aus Frankreich ausgewiesen zu werden, hat unser Leben bestimmt“, sagt Leo. Für die Männer, die in Grünau über viele Monate hinweg auf die Abschiebung in ihre Herkunftsstaaten warten, ist er oft die einzige Verbindung zur Außenwelt und oft der erste Deutsche, der sie nicht anschreit oder geflissentlich übersieht.

1992, nach seiner Pensionierung als Auslandskorrespondent für ADN und das Neue Deutschland, hat er seine deutsch-jüdisch-französische und kommunistische Geschichte aufgeschrieben. Sein Vater, Doktor Wilhelm Leo, Notar in Rheinsberg, kam aus einer jüdischen Familie, in der die Söhne seit Beginn des 19. Jahrhunderts fast immer Rechtsanwälte oder Ärzte wurden. „Mein Vater war schon als kleines Kind getauft worden und betrachtete seine jüdische Herkunft mehr als eine ferne Tradition“, erinnert sich Leo. Die Familie geriet schon vor 1933 ins Visier der Nationalsozialisten. Denn der Vater hatte 1927 einen Verleumdungsprozess gegen den damals noch ziemlich unbekannten Joseph Goebbels gewonnen.

Eines der einschneidenden frühen Erlebnisse, „das paradoxerweise zu meinen angenehmsten Kindheitserinnerungen gehört“, ist die Flucht mit den Eltern nach Frankreich wenige Wochen nach der Entlassung des Vaters aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen im Sommer 1933. 5.000 Reichsmark zahlte die Familie an einen professionellen Schmuggler, der den 10-Jährigen und seine Eltern bei Aachen sicher über die Grenze nach Belgien brachte. „Daran, wie Menschen vor Verfolgung und Unterdrückung fliehen, hat sich bis heute wenig geändert. Nur, dass die Grenzen noch undurchlässiger geworden sind.“

Am tiefsten, sagt Gerhard Leo, berührten ihn Schicksale wie das des jungen Manns aus Togo, der wegen seiner oppositionellen Aktivitäten nach Deutschland geflohen war und im Februar 2002 nach Togo abgeschoben wurde. „Das Alter des jungen Togolesen hat mich an meine eigenen Erfahrungen erinnert.“ Er floh selbst als „unbegleiteter Minderjähriger“ durch das von Deutschland überfallene Frankreich.

Zwei Tage vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris im Juni 1940 gelang Leo, der als 17-Jähriger von der Internierung „feindlicher Ausländer“ durch die französischen Behörden ausgenommen war, die Flucht in den noch unbesetzten Süden Frankreichs. Dort schlug er sich als Küchenjunge in Cannes durch, bis er seinen Vater in einem kleinen Dorf bei Toulouse wieder treffen konnte.

Hier bekommt Leo dann auch Kontakt zu untergetauchten Aktivisten der in Deutschland verfolgten KPD, die wiederum mit der illegalen französischen KP und der Résistance in Verbindung stehen. Und er beginnt seine erste Tätigkeit in der „Travail Allemand“, der besonderen Sektion der Résistance, die versucht, durch Propaganda- und Aufklärungsarbeit deutsche Soldaten zur Zusammenarbeit mit der Résistance oder zum Desertieren zu überreden.

Leos erster „Auftrag“: Er gibt sich als vermeintlicher Sohn einer Elsässerin aus und wird vom „Deutschen Arbeitsamt“ in Toulouse als Übersetzer der Transportkommandantur der Deutschen Wehrmacht zugeteilt. Und hilft durch die Informationen, die er über die Eisenbahntransporte in der Kommandantur zusammentragen kann, dabei, dass die Widerstandskämpfer ihre Aktionen genauer planen können. Erst nach 1945 erfuhr er, dass die gefährliche Kleinarbeit, den deutschen Besatzungstruppen tatsächlich Schaden zugefügt hatte. So verzehnfachte sich die Zahl der Résistance-Aktionen gegen das Eisenbahnnetz in Frankreich von 276 im Jahr 1942 auf 2.009 im Jahr 1943. „Ich konnte immerhin einen kleinen Beitrag leisten.“

Sein nächster Einsatzort ist Castres, hundert Kilometer von Toulouse entfernt, wo er unter Lebensgefahr Flugblätter an deutsche Soldaten verteilt. Dieses Mal hat er Pech. Er wird verraten, festgenommen und im Gefängnis schwer misshandelt. Am 14. Mai 1944 kommt Gerhard Leo vors Kriegsgericht. Der Vorwurf: Hochverrat – gleichbedeutend mit dem Todesurteil.

Am 3. Juni wird Gerhard Leo zum Transport nach Paris vor das oberste Kriegsgericht überstellt. Und hofft auf ein Wunder, das tatsächlich eintritt. Mitkämpfer überfallen den Gefangenentransport und befreien ihn im Bahnhof von Allasac. Bis zum Kriegsende bekommt er einen neuen Namen von der Partisaneneinheit, der er sich anschließt. „Rescapé“ – der Gerettete.

Auch die Gefangenen, die Gerhard Leo in Grünau besucht, träumen von Flucht. Doch die ist im Abschiebegefängnis Grünau bislang noch niemandem gelungen. Auf die meisten wartet am Ende der monatelangen Unsicherheit die erzwungene Abschiebung. Gerhard Leo sagt, für ihn sei es selbstverständlich, sich für ihre Entlassung zu engagieren. „Auch wenn die Ausländerbehörde und die Gerichte alles daran setzen, um das zu verhindern.“