Bulletten im Kaputtalismus

Kultzeichner Gerhard Seyfried und die taz: Jetzt als Live-Video!

Aus dem „Theodor Anton Zeppelin“-Plakat, das Gerhard Seyfried zum 8. Geburtstag der taz 1987 zeichnete, können wir hier nur einen Ausschnitt zeigen – und auch auf dem ist nicht alles zu erkennen, was Seyfried als Erfinder und Meister des Genres „Wimmelbild“ dort alles unterzubringen vermag. Noch auf dem kleinsten Papierschnipsel ein Gag, noch in der dritthintersten Ecke links an der Wand ein Kalauer, von all den verballhornten Werbeplakaten, Straßenschildern und Graffitti zu schweigen. Solche Großpanoramen, auf denen man sich in den Details verlieren kann, haben Seyfried berühmt gemacht.

Bekannt wurde er dadurch, dass keine alternative Publikation der 70er- und 80er-Jahre darum herumkam, die Lücken im Layout mit seinen lustigen Knollennasen-Anarchisten und Kontaktbereichs-Bullen zu füllen. Zum 60. Geburtstag des Künstlers hat der Verlag Zweitausendeins eine Gesamtausgabe herausgebracht (Die Werke – alle!), die auf 600 Seiten den kompletten Seyfried enthält – von frühen Kinderzeichnungen bis zu den Wahlplakaten für Christian Ströbele, die ihm zum ersten Bundestagsdirektmandat eines grünen Politikers verhalfen.

Dass die taz auf vielen Plakaten und Zeichnungen Gerhard Seyfrieds immer wieder auftaucht, ist unvermeidlich, denn sie entstammt derselben Szene, deren Gestalten und Umfeld in Berlin-Kreuzberg er immer wieder ins Bild gesetzt hat. Und die zusammen mit ihren Gegnern, den Ordnungskräften und der Polizei, dann zu „Freakadellen und Bulletten“ wurden – so komisch und genau, dass außer bei den Freaks große Seyfried-Fans auch bei den Freunden in Grün, den „Bullen“, zu finden sind. Wie zuletzt auf der Frankfurter Buchmesse zu erleben, als zwei Uniformierte einen Kollegen mit sanfter Gewalt vom Verlagsstand weg zum Dienst entführen mussten – er kam aus dem Plakat „Polizeihauptstadt Berlin“ und dem Kichern nicht mehr heraus.

Nach dem Sammelband mit den Comicgeschichten Seyfrieds, der im vergangenen Jahr erschien, liegt mit dieser Werkausgabe nunmehr ein Gesamtwerk vor, das wie kein anderes die Bunte Republik Deutschland der letzten Jahrzehnte illustriert, das progressive, subversive, anarchische Aufbegehren gegen Kaputtalismus und Konsumismus – ein Panorama des (un-)zivilen Ungehorsams. Von einem politischen Künstler und großen Humoristen, den in die große Tradition von Wilhelm Busch bis George Grosz zu stellen sich kein Lexikon der Zukunft scheuen wird. Seyfried selbst ruht sich, trotz des musealen Volumens seines Werks, nicht auf Traditionen aus – er hat mittlerweile drei Romane geschrieben, bloggt seit zwei Jahren auf taz.de (www.blogs.taz.de/zeichenblog) und kam zur Präsentation seines jüngsten Werks für ein Gespräch ins taz-Café. Dort kommentierte er auch Klassiker seiner Frühphase: „Das war die Zeit, als ich noch keine Hände und Füße zeichnen konnte.“ Ein Live-Video der Veranstaltung ist unter der Adresse abrufbar, unter der künftig noch öfter Diskussionen auf taz.de ausgestrahlt werden: www.taz.de/live. MATHIAS BRÖCKERS