: Der Fluch der guten Absicht
Heute beginnen die Filmfestspiele in Berlin: Mit weniger Stars als im vergangenen Jahr womöglich, dafür mit einer latent politischen Gewichtung. Spannung versprechen die Retrospektive zum „New Hollywood“ der Siebzigerjahre und die Berlinale-Schwerpunkte Lateinamerika und Südafrika
VON CRISTINA NORD
In jedem Jahr erklingt dieselbe bange Frage: Kommen die Stars, oder kommen sie nicht? Wird Nicole Kidman heute Abend den roten Teppich vor dem Berlinale-Palast betreten? Die Agenturen halten es für unwahrscheinlich. Wird Cate Blanchetts Anwesenheit Party-Empfänge aufwerten? Jack Nicholson die Gesellschaftsreporter mit seinem Sphinx-Lächeln beglücken? Oder macht die vorgezogene Oscar-Verleihung all das zunichte, was im letzten Jahr so gut funktionierte?
Damals sprach sich Dustin Hoffman bei einer Gala gegen die Irakpolitik der US-Regierung aus, und die deutschen Pazifisten waren begeistert. George Clooney parlierte mit einem Zukunftsforscher namens Horx, Steven Soderbergh war auch zugegen, und Richard Gere, Renée Zellweger, Dennis Hopper und viele andere brachten in die Stadt, wonach sie sich so chronisch sehnt: Glamour.
Jetzt sieht es so aus, als kämen die Stars nicht nach Berlin, weil es in Los Angeles am 9. Februar ein wichtiges Diner zu besuchen gilt. Das bereitet den Lokalpatrioten Sorge und lenkt dabei vom wirklichen Ärgernis ab: Wie sind die Filme beschaffen, in denen die Stars auftreten? Mehrheitlich so, dass man eine Krise Hollywoods annehmen muss. Das letzte Jahr blieb wirtschaftlich unter den Erwartungen, die Besucher strömten nicht in die Kinos, Blockbuster-Sequels wie der „Matrix“ zweiter und dritter Teil hielten weder filmisch noch ökonomisch, was sie versprachen.
Seit geraumer Zeit laufen Filme, die sich in ihren ersten 20 Minuten ganz ordentlich anlassen, bald aber in Langeweile, ästhetische Einfallslosigkeit und muffige Politics abdriften. Ob „Mona Lisas Lächeln“, „Open Range“ oder „Der letzte Samurai“: Sieht man von den Schauwerten ab, so stagnieren diese Hollywood-Produktionen. Und weder Julia Roberts noch Kevin Costner noch Tom Cruise richten dagegen etwas aus.
Ähnliches gilt für die Majors der diesjährigen Berlinale. Wenn der heutige Eröffnungsabend von Anthony Minghellas „Cold Mountain“ bestritten wird, dann sind zwar Jude Law und Nicole Kidman auf der Leinwand zu sehen. Doch dies ändert nichts daran, dass das, was an diesem Film elegisch sein möchte, in Lahmheit kippt. Die Schlachtszenen der Exposition – „Cold Mountain“ spielt vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Bürgerkriegs – halten sich an die Konventionen, die für die Darstellung von Krieg im Kino etabliert worden sind: Im Getümmel ist die Kamera beweglich und nah an den Leibern, gerne schaut sie sich sekundenkurz deren durchstoßene Oberflächen an. Geht sie in die Totale, weidet sie sich an der Erhabenheit der Explosionen und an der daraus resultierenden schwefelgelben Einfärbung.
Es scheint, als wollte Minghella sein Werk mit Hilfe dieser Patina zum Schlachtengemälde veredeln. Dass in einem Dialog einmal der Satz fällt, der Krieg sei schlecht, will man daher nicht so recht glauben.
Weil Ron Howards „The Missing“ und Nancy Meyers’ „Something’s Gotta Give“ dem nicht viel hinzuzufügen haben, haben Dieter Kosslick und sein Team gut daran getan, die Schwerpunkte anderswohin zu setzen. Als hintersinniger Schachzug erscheint dabei die Wahl des Retrospektiventhemas. Betrachtet man New Hollywood nicht aus heutiger Sicht als eine Sammlung kanonischer Werke, dann stehen Filme wie „Bonnie and Clyde“ oder „Easy Rider“ ja zu allererst für einen radikalen Bruch mit Old Hollywood. Mitte der Sechzigerjahre steckten die Studios in einer so tiefen Krise, dass es der Erneuerung dringend bedurfte, und sie kam, angefeuert von den gesellschaftlichen Umbrüchen der Zeit. Natürlich fiel dieser Wechsel nicht vom Himmel, sondern war vorbereitet – etwa von den Filmen der Nouvelle Vague, die sich wiederum auf Hitchcock oder Humphrey Bogart berief, und von Marlon Brando und James Dean, den zornigen jungen Männer der 50er. Sie wandten sich gegen die väterliche Autorität und etablierten eine neue, weniger prüde Körperpolitik. Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als Zufall, wenn etwa Martin Sheen in Terrence Malicks „Badlands“ (1973) ohne Unterlass die Gesten und Haltungen Deans zitiert. Doch in den 50er-Jahren fehlte den Rebellen noch der Grund. Ein Jahrzehnt später fand das Unbehagen am Status quo eine Menge Gründe. Die Filme, die aus diesem Unbehagen heraus entstanden, wirken heute um vieles moderner als gegenwärtige Produktionen.
Dass das Verhältnis von Retrospektive und Wettbewerb daher Spannungen hervorbringen könnte, deutete sich an, als Dieter Kosslick bei der Pressekonferenz zur Berlinale scherzte: „Mir wäre es lieber, wenn wir die Retrospektive im Wettbewerb gespielt hätten.“ Aus diesem Missverhältnis nun den Schluss abzuleiten, dem aktuellen Kino sei geholfen, wenn es sich so rebellisch aufführte wie 1967, wäre naiv.
Naiv schon deshalb, weil sich die großen Produktionen die Errungenschaften des einstmals Widerständigen einverleibt haben. Naiv vielleicht auch deshalb, weil das Widerständige schon damals zwiespältig war: Die für New Hollywood so zentrale Figur des Outlaws etwa öffnet sich nach rechts genauso weit wie nach links. Und was soll „rebellisch“ heute noch bedeuten, wenn „The Missing“ als eine der Hauptfiguren ganz selbstverständlich einen Hippie avant la lettre einführt, während sich der Film zugleich an Selbstjustiz und überspitzt bösartig gezeichneten Indianern erfreut? Naiv wäre außerdem zu glauben, die Krise der Studios in den 60er-Jahren lasse sich mit der heutigen Krise in eins setzen. Damals krankte Hollywood am fordistisch strukturierten System der Filmproduktion. Die damit verbundene Starre ist längst überwunden – nur leider nicht mit dem Ergebnis, dass sich eine kühne Filmproduktion durchgesetzt hätte.
Die Berlinale reagiert darauf, indem sie sich anderen Produktionsländern und einem dezidiert politischen Kino zuwendet. Damit sind zunächst die Sujets gemeint: John Boorman behandelt mit „Country of my Skull“ die Arbeit der südafrikanischen Wahrheitskommission; Eric Rohmer siedelt seinen Thriller „Triple Agent“ vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges an; Theo Angelopoulos versucht sich in „Die Erde weint“, dem ersten Teil einer groß angelegten Trilogie, an einem Stück griechischer Geschichtsschreibung; Hans Petter Moland widmet sich in „Beautiful Country“ einem jungen Vietnamesen, der nach seinem Vater in den USA sucht. Die Kritikerin Frieda Grafe warnte einmal – mit Blick auf Costa-Gavras’ „Z“ – vor einem Kino, das sich nur auf der Ebene des Plots politisch gebärdet: „Wann wird man endlich begreifen, dass nur gute Absicht kriminell sein kann, dass formal unreflektierte Darstellung Narzissmus ist, der jede Kritik, jede Negation in Approbation verkehrt?“ Das Festival wird zeigen, ob die Beiträge im Wettbewerb den Fehler der guten Absicht vermeiden.
Eine Schwerpunktregion der Berlinale bildet Lateinamerika, der hochgradig politisierte Kontinent. Mit Fernando Solanas erhält einer der wichtigsten argentinischen Regisseure den Ehrenbären für sein Lebenswerk. Er wird seine aktuelle Dokumentation „Memoria del saqueo“ („Geschichte einer Plünderung“) vorstellen, die, so Solanas, den Versuch unternehme, „ein lebendes Fresko von den letzten drei schwer zu ertragenden Jahrzehnten zu entwerfen, von der Diktatur Videlas bis zur Volksrebellion vom 19. und 20. Dezember 2001“.
Der brasilianische Regisseur Walter Salles – für „Central do Brasil“ erhielt er 2001 einen Goldenen Bären – wollte sein Che-Guevara-Biopic „The Motorcycle Diaries“ in den Wettbewerb schicken. In letzter Sekunde jedoch erhielt er eine Zusage aus Cannes; deswegen widerrief er die Teilnahme an der Berlinale. Kein feiner Zug – und das nicht nur, weil nun bis Mai offen bleibt, ob Salles zum Hagiografen wird oder nicht. Und ob der mexikanische Schauspieler Gael García Bernal als junger Che Guevera eine gute Figur macht.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet Südafrika, wo in diesem Jahr zum zehnten Mal die Überwindung des Apartheid-Regimes gefeiert wird. Unter dem Titel „Project 10 – Real Stories from a Free South Africa“ zeigt das Forum zehn mittellange Dokumentationen. Sie befassen sich – teils aus einer sehr privaten Sicht – mit den Umwälzungen des letzten Jahrzehnts. Ihre Regisseure stehen stellvertretend für die „Rainbow Nation“, insofern sie unterschiedlicher sozialer Herkunft und Hautfarbe sind.
Die dreistündige Dokumentation „Memories of Rain“ erweitert das zeitgeschichtliche Panorama, indem sie 1976 – zum Zeitpunkt der brutal niedergeschlagenen Jugendunruhen in Soweto – einsetzt und sich bis zur Gegenwart spannt. Die Regisseurinnen der deutsch-südafrikanischen Koproduktion, Angela Mai und Gisela Albrecht, folgen der Vita zweier ANC-Kader, der des schwarzen, aus einer Township stammenden Kevin Qhobosheane und der der weißen, aus priviligierten Verhältnissen stammenden Jenny Cargill. Lange Talking-Head-Sequenzen prägen den Film, dazu kommen Archivmaterial und Aufnahmen davon, wie die Hauptfiguren an die Stätten ihrer Untergrundaktivität zurückkehren (unter anderem streift Cargill über das Gelände eines mittlerweile verfallenen ANC-Ausbildungslagers in der DDR, das in der Nähe von Berlin lag). Dass die Filmemacherinnen eine recht konventionelle Machart gewählt haben, war eine gute Entscheidung. Denn die formale Bescheidung lässt viel Raum für die Offenheit, mit der sich Qhobosheane und Cargill erinnern.
In ihren Berichten entfaltet sich ein profundes Bild des Untergrundkampfs. Wie konnte sich ein so perfides System wie die Apartheid halten? Was waren die Triumphe des ANC, was seine Aporien, welchen Preis verlangte er von den Aktivisten? „Memories of Rain“ findet Antworten auf diese Fragen. Wenn dies das politische Kino ist, das die diesjährige Berlinale erforschen will, dann darf man sich auf ein aufregendes Festival freuen.