„Es gibt keine steigende Gewalt an den Schulen“, sagt Joachim Kersten

Die Misshandlungen durch Schüler in Hildesheim sind das Echo auf eine Öffentlichkeit, die geil auf Schadenfreude ist

taz: In einer Berufsschule in Hildesheim hat eine ganze Klasse einen Schüler monatelang gepeinigt beziehungsweise dabei zugeschaut. Das Kollektiv war keine Hemmschwelle – im Gegenteil. Warum?

Joachim Kersten: Solche kollektiven Demütigungen sind nicht neu. Das kennen wir aus geschlossenen Heimen, aus Strafanstalten, früher gab es so etwas auch an Bundeswehrhochschulen. Der Mechanismus ist: Das Opfer wird ausgewählt und dann durch die Gewalt verweiblicht. Verstörend ist für uns nicht der so sehr der Fall, sondern der Ort: die Schule.

Allerdings ist es keine normale Schulklasse: Es sind nur Männer, viele aus Migrantenfamilien mit null Berufschancen. Welche Rolle spielt das?

Die Gewalt kompensiert den Statusverlust. Der Männlichkeitsstatus ist, weil man sozial ausgeschlossen ist, beschädigt – indem nun ein Opfer verweiblicht wird, richten die Täter ihren bedrohten Männlichkeitsstatus wieder auf. Das ist ein gängiger Typus von Gewalt.

Taten wie die in Hildesheim werden oft mit dem Konsum von Gewaltbildern im TV und Videospielen erklärt. Zu Recht?

Na ja. Man kann natürlich an „Jackass“ auf MTV oder die „Dschungelshow“ denken, die an Schadenfreude appellieren. Allerdings muss man vorsichtig sein: Schadenfreude gibt es auch bei Tom & Jerry. Auf keinen Fall existiert eine platte Wenn-dann-Kausalität, in der Bilderkonsum zur Tat führt. Das ist zwar eine populäre These, aber sie ist durch keine Untersuchung untermauert.

Es gibt also keine Verwahrlosung durch Medienkonsum?

Ich vermeide Schlagworte wie „Medienverwahrlosung“ oder auch „Machotürken“, weil solche Worte zu erklären scheinen, was längst nicht verstanden ist. Sie stigmatisieren, sie erklären nicht. Es ist beunruhigend, dass Sozialwissenschaftler solche Vokabeln verstärkt benutzen. Der Zusammenhang zwischen Tat und Bild ist komplizierter als üblicherweise angenommen. Wir wissen, dass zum Beispiel Amoktäter mehr Gewaltbilder konsumieren – aber wir wissen eben nicht, ob solche Bilder die Tat auslösen. Das wird in der Debatte dauernd unterstellt, ist aber falsch.

In Hildesheim haben die Schüler ihre Gewalttaten gefilmt und die Bilder ins Internet gestellt. Sie waren nicht Konsumenten, sondern Produzenten von Bildern. Warum haben sie das getan?

Das gehört zum Maskulinitätsbeweis. Die Tat soll sichtbar sein. Sie nutzt ja nichts, wenn niemand sie sehen kann. Und plausibel scheint mir zu sein, dass mediale Vorbilder nahe legen können, die Tat mit der Videokamera zu filmen und ins Internet zu stellen. Das ist das Echo einer Öffentlichkeit, die geil auf Schadenfreude ist, und von Medien, die alles verkaufen, was sich verkaufen lässt.

Die Bilder der Tat sind verzerrte Spiegelungen jener Schadenfreude, die in der Mitte der Gesellschaft konsensfähig ist?

Offenbar. Indem die Täter solche Bilder veröffentlichen, meinen sie, vielleicht etwas von der patriarchalen Dividende abzubekommen. Aber auch bei der „Dschungelshow“ und ähnlichen Sendungen muss man differenzieren. Ich glaube, es ist falsch, zu sagen, dass diese Sendungen populär sind, weil die Leute wollen, dass den Figuren Leiden angetan werden. Das ist wie bei einem Unfall auf der Autobahn: Die Passanten stoppen und gucken – aber nicht weil sie wollen, dass jemand tot ist, sondern weil sie neugierig sind. Trotzdem müssen wir – die Gesellschaft – uns fragen, ob wir in den Medien dauernd solche Unfälle sehen wollen.

Was müssen wir tun? Die niedersächsische Justizministerin hat härtere Strafen gefordert. Wird das was nutzen?

Das sind üblichen „Dirty Harry“-Forderungen. Die Jugendlichen werden wegen schwerer Körperverletzung angeklagt und verurteilt werden. Was härtere Strafen da bringen sollen, weiß ich nicht. Taten verhindert man damit nicht.

Also? Was tun? Fehlt Prävention?

Es gab an der Schule ja sogar Veranstaltungen über Zivilcourage. Aber solche Sachen gehören eben zur Welt der Erwachsenen und Sozialpädagogen – das kommt bei vielen 18-Jährigen einfach nicht an. Sinnvoller sind praktische Kurse, in denen es nicht nur ums Reden geht, sondern auch um den Körper. Dort werden die Jugendlichen mit ihrer eigenen Gewaltfähigkeit konfrontiert, andererseits soll im besten Fall ihr Selbstwertgefühl gesteigert werden. Solche Kampfkunst-Kurse bringen meistens mehr als gut gemeinte Zivilcourage-Veranstaltungen.

Der Fall in Hildesheim wird als Indiz für die steigende Gewalt an Schulen verstanden. Ist das plausibel?

Nein, denn die Vermutung, dass die Gewalt in den Schulen zunimmt, trifft nicht zu. Es gibt zwar eine starke Zunahme von verbaler Gewalt, von Beleidigungen – aber nicht von körperlichen Übergriffen. Auch Umfragen bei Schülern zeigen, dass deren Selbstbild gewalttätiger geworden ist. Aber der massive Anstieg an Gewaltbereitschaft ist vielleicht auch ein Resultat der Rückkopplung mit medialen Bildern: Man hält Gewalt für akzeptiert, deshalb kreuzt man es im Fragebogen an. Eine zuverlässige Quelle für die faktische Gewalt an Schulen sind die Versicherungsdaten über Knochenbrüche. Und die sind seit Jahrzehnten ziemlich unverändert.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE