Die totale Erinnerung

Auf Identitätssuche tief in der Vergangenheit: In diesem Frühjahr beschäftigen sich viele junge Autoren und Autorinnen in ihren Büchern mit den Kriegserfahrungen der Großelterngeneration

Die alleinige Betrachtung der Gegenwart ist mit einem Mal passéDa weiß jetzt ein Junger, dass „die Vergangenheit Teil meiner Identität ist“Anlässe für einen Aufschrei politisch korrekter Empörung gibt es nicht

von GERRIT BARTELS

Eines Tages reicht es Maureen. Sie packt ihre Koffer, verlässt ihren schwierigen deutschen Lover in Berlin, den Journalisten Alexander Schynoski, und kehrt in ihre englische Heimat zurück: „Ihr Deutschen habt es doch mit dem Mainstream, und wenn nicht damit, dann holt ihr die Vergangenheit heraus, Vergangenheit, Vergangenheit noch mal und noch mal, bis es euch zum Hals heraushängt und wieder der Mainstream angesagt ist.“ Nun mag die junge Maureen, eine Figur in Olaf Müllers neuem Roman „Schlesisches Wetter“ (Berlin Verlag), mit ihrem Pauschalurteil über die Deutschen vordergründig anderes im Sinn gehabt haben, sie ist von Beruf Architektin. Doch ihr Spruch passt auch gut zu einer Tendenz in der neueren deutschen Literatur: Eine Vielzahl jüngerer AutorInnen arbeitet plötzlich die deutsche Vergangenheit auf, und zwar nicht die eigene, in der Regel von den Sechzigerjahren bis in die Achtziger reichende, sondern die der Großeltern: deren Erfahrungen im und mit dem Krieg, ihr Umgang mit der Angst, mit Vertreibung, Flucht und Tod.

Der 1964 geborene Olaf Müller lässt seine Hauptfigur Schynoski eine Reise in die Vergangenheit seiner 1946 aus dem damaligen Breslau vertriebenen Familie antreten. In „Himmelskörper“, dem neuen Roman der 35-jährigen Tanja Dückers (Aufbau Verlag), möchte die junge Meteorologin Freia alles über ihre Mutter und ihre Großeltern in Erfahrung bringen und landet bei ihren Recherchen in Warschau und dem früheren Gotenhafen. Stefan Wackwitz, Jahrgang 1952, hat mit „Ein unsichtbares Land“ (S. Fischer) einen Roman über seinen Großvater geschrieben, der 1893 in der Nähe von Breslau geboren wurde, Soldat im Ersten Weltkrieg war und die Zeit des Nationalsozialismus in Südwestafrika verbrachte. Der neue Roman des 1953 geborenen Reinhard Jirgl, „Die Unvollendeten“ (Hanser Verlag), erzählt die Geschichte einer sudetendeutschen Familie über sechs Jahrzehnte. Und der 29 Jahre alte Tagesspiegel-Redakteur Christoph Amend hat für sein Buch „Morgen tanzt die ganze Welt. Die Jungen, die Alten, der Krieg“ (Karl Blessing Verlag) prominente Herren wie Richard von Weizsäcker, Egon Bahr, Joachim Fest und Erich Loest besucht und sich mit ihnen über ihre Kriegserlebnisse und deren Folgen für ihr weiteres Leben unterhalten.

Die totale Erinnerung hat in der neueren deutschen Literatur die totale Gegenwartsbetrachtung abgelöst. Denn der Mainstream, das war in den Neunzigern die pure Gegenwart, das Leben im Hier und Jetzt („Das ist kein Buch, das ist das Leben“, feierte die FAS 2002 noch einen Roman aus den späten Achtzigern). Wenn sich erinnert wurde, dann an die Kindheit in den Achtzigerjahren: Erst taten das die in der Bundesrepublik sozialisierten Autoren, grob gesagt die Popliteraten, mit Büchern wie „Liegen lernen“, „Generation Golf“ oder „Meine nachtblaue Hose“, später die in der DDR aufgewachsenen mit „Mein erstes T-Shirt“, „Müller haut uns raus“ oder „Zonenkinder“ (genauso grob: die Lesebühnenautoren). Sie alle wurden viel gefeiert für ihr unbefangenes Draufloserzählen, mussten sich zuletzt jedoch verstärkt den Vorwurf gefallen lassen, gar nichts zu erzählen zu haben, ja, nicht mal Literatur zu produzieren.

So lässt sich die verstärkte literarische Beschäftigung mit der Vergangenheit natürlich leicht als Reflex auf solcherart Vorwürfe deuten; gerade als im Gefolge des 11. 9. und dem andauernden „Krieg gegen den Terror“ eine neue Ernsthaftigkeit nach der anderen ausgerufen oder eingefordert wurde. Mit Familiengeschichten, so sie historisch bedeutsam sind, sie vom kleinen Schicksal auf das große Ganze schließen lassen, sieht das natürlich ganz anders aus. Man muss sie nur aufschreiben können.

Allerdings machen die heute Dreißig- bis Vierzigjährigen momentan die nicht unwichtige Erfahrung, dass die Großelterngeneration ausstirbt und es immer weniger Möglichkeiten gibt, die Geschehnisse im Deutschland der Zwanziger- bis Fünfzigerjahre mündlich überliefert zu bekommen. In großer Nähe so fern: Da bleibt bald nur noch das Archiv. Während Stefan Wackwitz diese demografische Zwangsläufigkeit ausgleicht, indem er Aufzeichnungen seines Großvaters in seinen Roman aufnimmt und ihn damit quasi posthum zum Coautor macht, so ist sie in den Romanen von Dückers und Müller auch ein Problem der Hauptfiguren: Freia entlockt in „Himmelskörper“ ihrer dementen Großmutter die Schlüsselgeschichten in einem derer wenigen hellen Momente. Kurz vor Toresschluss sozusagen. Schynoskis Mutter erzählt in „Schlesisches Wetter“ ihrem Sohn nur während einer Nacht die Geschichten von Flucht und Vertreibung. Als er ein paar Tage später abreist, wird klar, dass er seine Mutter so bald nicht wiedersehen wird. Christoph Amend wiederum schreibt, dass es ein Spaziergang mit seinem gerade von einer Krebsoperation genesenen Großvater war, der ihn zum Schreiben seines Buches veranlasst habe: „Ich möchte, dass du weißt, wie es im Krieg war.“ Es folgten zwar „nur harmlose Geschichten“ von der Front, diese aber ließen Amend ins Grübeln geraten, zumal er darüber nie wieder mit seinem Großvater bis zu dessen Tode sprach.

Bezeichnenderweise ist es der Journalist Christoph Amend, der ohne Umschweife den Bogen schlägt von den Jungen zu den Alten, von den gerade durch den New-Economy-Crash unsanft in der Realität aufgeschlagenen Enkeln zu den vom Krieg traumatisierten Großeltern. Amend bricht also im „Chaos der Gegenwart“ in die Vergangenheit auf und konstatiert dabei nicht selten „die Leere meiner Generation, die förmlich mit den Händen zu greifen war“ – da liegt es nahe, Parallelen zu ziehen (zwei Generationen, die bei Null anfangen müssen, hmhmhm …), zu glauben, das bessere Verständnis der deutschen Vergangenheit mache diese Leere erträglicher. Problemlos fühlt Amend sich ermächtigt, Sprachrohr für „meine Generation“ zu sein. „Wir sind die Generation mit dem Entertainment-Gen“ weiß er, fragt nach anderen Genen, stellt fest, zu wenig zu wissen über den Alltag unter Hitler und über den Krieg und hat noch eine andere, entscheidende Begründung für sein Buch parat: „Wir müssen uns zunächst klar werden, woher wir kommen, bevor wir entscheiden können, wohin wir gehen wollen“ zitiert er den Psychologen Wolfgang Schmidbauer.

Amends Buch ist so nicht nur ein interessantes Reportagen- und Gesprächsbuch, sondern auch das Selbstporträt eines jungen, nachdenklichen Mannes, der Fragen stellt und nicht nur feiern will. Amend, der schon während des Kosovo-Krieges das Schweigen der Pop-Intellektuellen in einem Zeitungstext geißelte, positioniert sich zur rechten Zeit als Gegenmodell zu den Tristesse-royale-Literaten und zu derem aus purem Überdruss geäußerten Satz: „Wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die ersten, die sich freiwillig meldeten.“

Zum anderen ist „Morgen tanzt die ganze Welt“ eine Art moderner Entwicklungsroman. Amend spekuliert, ob der Christoph vor den Begegnungen mit den Alten ihm nicht plötzlich sehr fremd geworden ist. Ich ist ein Anderer geworden, da weiß jetzt ein Junger, dass „die Vergangenheit Teil meiner Identität ist“.

Diese Identitäts- und Ich-Suche teilt Amend mit seinen Romane schreibenden KollegInnen. Bei Jirgl ist einmal die Rede von dem „seelischen Buckel, den ich von diesen Flüchtlingen geerbt hatte“; Wackwitz’ Ich-Erzähler dünkt es, „als hätten sich über die Jahrzehnte mein Leben und das Leben meines Großvaters hinter meinem Rücken verständigt“; Müllers Schynoski ahnt im Verlauf seiner Reise: „Letztlich sollte ich herausfinden, wie ich wirklich fühlte, ob dieser Weg dem Vorhaben nützlich sein würde: zu erfahren, wer ich bin?“ Und Dückers’ Heldin Freia, die ein Kind erwartet, glaubt nach dem Aufdecken mancher Familiengeheimnisse, keine „Sackgasse der Geschichte“ mehr zu sein, sondern ein „Knotenpunkt in einem dichten Netzwerk“.

Die Zeit der Reife, die Suche nach sich selbst, nicht zuletzt die unablässige Suche nach einer speziell deutschen Identität – alles keine leichten Unterfangen, gerade vor dem Hintergrund der belastenden deutschen Vergangenheit. Interessanterweise hat keines dieser in den letzten Wochen veröffentlichten Bücher bislang größeres Aufsehen verursacht. Ein Deutscher, der im einstigen Heimatdorf seiner vertriebenen Großeltern in Polen bleibt, um zu sich selbst zu finden (so endet Olaf Müllers Roman), der Traum eines jeden Vertriebenen (?!) – das scheint kein Anlass mehr für einen Aufschrei politisch korrekter Empörung zu sein. Man erinnere sich nur an die erregte letztjährige Debatte, die Günter Grass’ Wilhelm-Gustloff-Roman „Im Krebsgang“ verursachte und sich an der Frage entzündete, wie weit man denn gehen dürfe mit der Darstellung der Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Ob Günter Grass da ordentliche Vorarbeit geleistet hat? Es ist wohl eher so, dass wegen des Irakkrieges und der rasant sich ändernden weltpolitischen Konstellationen deutsche Nabelschauen, von wegen Schuld, Sühne und Sehnsüchten nach einer neuen Normalität, nicht ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Dazu kommt, dass sich beispielsweise Tanja Dückers und Olaf Müller der Fallen ihrer Sujets durchaus bewusst sind. Dückers weist in Interviews oft darauf hin, keiner neuen deutschen Unbefangenheit das Wort reden zu wollen. Zuletzt äußerte sie in der Berliner Zeitung ihre Bedenken, dass man in Deutschland versuche, „sich von der Vergangenheit zu befreien und sie gleichzeitig herunterzuspielen“. Müller wiederum hat seinen Helden mit viel Selbstzweifeln ausgestattet und lässt ihn in Polen auf Menschen treffen, die ihm mehr als skeptisch gegenüberstehen: „Sie sollten schreiben“, sagt da eine Polin zu ihm, „wie die Deutschen wieder hierherkommen. Aber schreiben Sie auch, daß sie eine alte Polin getroffen haben, die ihr Leben in Breslau verbracht hat. Die alte Polin hat ihnen gesagt, dass die Deutschen wenigstens warten könnten, bis wir tot sind, wenn sie schon zurückkommen müssen.“ Und auch Amend wundert sich sehr darüber, wenn ihm der Politikwissenschaftler Iring Fetscher ziemlich ungerührt berichtet, wie es mit dem Schießen im Krieg war: „Man muss beobachten können. Dann schießt man sich ein: lang, kurz – Treffer!“ Kein falscher Geruch von Reaktion hier, nirgends.

Skepsis ist trotzdem angebracht. Es könnte ja auch sein, dass all das Erinnern, das Graben in Familiengeschichten, das Verstehenwollen der Vergangenheit das Leben nicht leichter macht, die Psyche nicht besser auslüftet, die eigene Identität nicht zufriedenstellend erklärt. Dass das alles nur eine Phase ist, eine literarische Mode dazu. Dass eine Figur wie Schynoski eines Tages selbst in Polen merkt, sich seiner Existenz nicht wirklich sicher zu sein. Dass die einst als „Szeneautorin“ gefeierte Tanja Dückers „Himmelskörper“ vielleicht nur deshalb geschrieben hat, um von ihrem Image wegzukommen. So stellt Christoph Amend auch am Ende seines Buches noch fest, dass „seine“ Generation doch so anders ist als die Alten, so egoistisch, so freiheitsbewusst, so verantwortungs- und orientierungslos. Soll sie doch endlich, so Amends Aufforderung, damit anfangen, den eigenen Weg zu finden!

Immerhin lässt dann ein anderer Blick in die Gegenwart hoffen, auf die Generation der ab 1980 geborenen: In einer Zeit, in der der Irakkrieg tobt, sind es besonders viele Schüler, die auf zahlreichen Friedenskundgebungen ihre Abscheu vor diesem Krieg täglich demonstrieren. Sollte die Vergangenheit eines Tages wieder raus aus den Charts sein, braucht man sich zumindest in dieser Hinsicht nicht zu fürchten vor einem erneuten Angesagtsein des Mainstreams.