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Archiv-Artikel

S/M ist Vertrauenssache

Das Kino in der Brotfabrik zeigt Dick Kirbys Dokumentation „Sick“ über das Leben und Sterben des Künstlers, Schriftstellers und Supermasochisten Bob Flanagan

In der Zweisamkeit zwischen Bob und seiner großen LiebeSheree kommt jedes Schlageneinem Streicheln gleich

Wenn es stimmt, dass guter Sex Leben verlängern kann, muss Bob Flanagan von dieser Medizin ziemlich viel genommen haben, bevor er 1996 dann doch mit 44 Jahren an einer unheilbaren Lungenkrankheit starb. Trotzdem ist das heftige Treiben nicht immer zur Nachahmung zu empfehlen, das sieht man in Dick Kirbys Dokumentation „Sick“ schon nach wenigen Sekunden. Denn das Sexleben war für den aus Los Angeles stammenden Dichter und Performance-Künstler Flanagan nur im Extrem ein Gewinn: eingeschnürt in Bondages, an Nippelringen mit Seilen aufgehängt oder von seiner großen Liebe, Sheree Rose, mit Nadel und Faden zwischen den Beinen bearbeitet.

Die Geschichte ist kompliziert. Seit seiner Geburt litt der 1952 in Kalifonien geborene Flanagan an Mukoviszidose, einer Lungenkrankheit, bei der man langsam an Verschleimung erstickt. In der Regel liegt die Lebenserwartung unter zwanzig Jahren, Bob schaffte es doppelt so lang – dank S/M. Durch den Schmerz wurde bei ihm Adrenalin freigesetzt, das genügend Kraft zum Husten gab.

Nebenher lernte Flanagan auch, jede Qual durch absolute Körperkontrolle in Lust umzuwandeln, und das ist ja eine gute Sache, gesellschaftlich gesehen. Aus diesem Grund durfte der selbst ernannte „Supermasochist“ seine Piercing-, Nailing- und Hanging-Performances irgendwann nicht mehr bloß in libertären Clubs, sondern auch im Kunstbetrieb vorführen. 1994 lag er für eine Ausstellung des New Museum als lebende Skulptur im Krankenbett. Zur Vernissage wollte jeder dabei sein, der in New York einen Namen oder wenigstens eine gut gehende Galerie hat. Nur Isa Genzken sieht man kurz im Film mit dem Finger drohen, weil sie Flanagans Aktion nicht für Kunst hält.

Immer wieder stellt „Sick“ in solchen Situationen die auseinander klaffende Wahrnehmung von Normalität hervor. Mal wird gezeigt, wie viel Zuneigung im Spiel ist, wenn Sheree Rose ihren kranken Bob streng züchtigt, damit es ihm im Schrecken für Momente besser geht. Dann erscheint ihre Zweisamkeit als Lederidylle, in der jedes Schlagen einem Streicheln gleichkommt. Gleichzeitig erfährt man nie, ob der Wille zur Unterwerfung allein der Krankheit geschuldet ist, oder ob Flanagan ohne die Notlage auf S/M verzichtet hätte.

Als Dichter wurde Flanagan wiederum gerne zu Lesungen eingeladen, wenn über Sex- und Gewaltverhältnisse geredet werden sollte. Meistens hat er aus seinem „Fuck Journal“ vorgelesen, wie ihn Sheree Rose die ganze Nacht durchgeprügelt oder weit Schlimmeres mit ihm angestellt hat. Das gab natürlich Probleme in Zeiten kritischer Machtdiskurse: Flanagan fühlte sich nur wohl, solange er litt.

Kirby Dick hat den lustigen Masochisten, dessen Körper von Narben und Brandwunden übersät war wie die Holzbank einer Sextanerklasse, bis ans Totenbett begleitet. Seit sich beide Anfang der Achtzigerjahre begegneten, sind 150 Stunden Material zusammengekommen, deren Schnitt Flanagan teils noch selbst mitgestaltet hat. Interviews mit den Eltern oder Bobs schwulem Bruder werden von Slapstick unterbrochen: Als Kämpfertyp war Flanagan eher eine Figur wie Wolfgang Neuss, der ebenfalls aus Verzweiflung lachen konnte.

Der Film fängt diese Brechungen und Stimmungswechsel ungeheuer weich auf. Nie nutzt der Dokumentarist die Exzentrik seines Gegenübers für schmuddelige Bilder aus, dafür stehen sich die beteiligten Personen auch zu nahe. So sehr S/M als Vertrauenssache gilt, so vorsichtig nähern sich auch die Bilder dem Sterben an. Der letzte Satz von Flanagan vor seinem Tod lautet „I'll don't understand it …“. Das letzte Bild zeigt Bob als kleinen Jungen aus Kindheitstagen, damals noch ohne Narben. HARALD FRICKE