: Die Army vergisst kein Kind
aus Elizabeth KIRSTEN GRIESHABER
Pünktlich zum Pausenklingeln betritt Sergeant Jorge Osorio das Schulgebäude der Elizabeth High School in Elizabeth, New Jersey. Seine schwarzen Lackschuhe blitzen im Neonlicht, die blaugrüne Uniform sitzt stramm und das schwarze Barett bedeckt vorschriftsgemäß den kahl rasierten Kopf. Kaum haben die Schüler ihn gesehen, kommen sie von mehreren Seiten angelaufen. Mit Handschlag begrüßt der Sergeant die Jungen, den Mädchen drückt er Küsschen auf die Wange. Mühelos wechselt Osorio zwischen Spanisch und Englisch hin und her, hält Smalltalk mit mehreren Schülern gleichzeitig und verteilt Visitenkarten. Kurz bevor der Unterricht wieder anfängt, verlässt Osorio die Schule und verabschiedet sich mit den Worten: „Ruft mich an, ich kann euch weiterhelfen.“
Sergeant Osorio ist auf der Suche nach neuen Soldaten. Mindestens dreimal pro Woche kommt er zur Elizabeth High School, um Schülerinnen und Schüler für die US Army zu rekrutieren. Die Schule, mit fast 5.000 Schülern die größte High School des US-Bundesstaates New Jersey, liegt mitten im Zentrum von Elizabeth, einer heruntergekommenen Industriestadt, ein paar Kilometer südlich von New York City gelegen. 39 Prozent der 149.000 Einwohner sind in den letzten Jahrzehnten aus Puerto Rico und anderen Ländern Lateinamerikas eingewandert, es gibt eine kleine polnische Community, viele der alteingesessenen Bewohner sind Afroamerikaner. Armut, Drogenmissbrauch und Kriminalität gehören hier zum Alltag, mehrere Stadtviertel werden von Streetgangs kontrolliert.
Auf dem Rückweg zum Rekrutierungsbüro der Army, das in Sichtweite der Schule liegt, erzählt der 26 Jahre alte Osorio, wie er selbst im Alter von 17 Jahren von der US Army angeworben wurde. Osorio stammt aus Bogotá in Kolumbien. Als er sieben Jahre alt war, zog seine Familie nach Queens in New York City. Obwohl seine Eltern hart arbeiteten, hatten sie nicht genügend Geld, um die College-Ausbildung ihres Sohnes zu finanzieren. Staatliche Ausbildungskredite konnte Osorio nicht beantragen, da er kein US-Bürger war. In dieser aussichtslosen Situation kam das Angebot der Army zur rechten Zeit. „Ich habe mich für vier Jahre verpflichtet und im Gegenzug hat die Army meine Ausbildung bezahlt.“
Osorio studierte im Fernstudium Kriminologie, nebenbei bildete ihn die Army zum Minensucher aus. Mehrere Monate nahm er an der Ifor-Mission in Bosnien teil, von 1995 bis 1998 war er auf einer Army-Base bei Gießen stationiert. Noch heute schwärmt Osorio von deutschen Würstchen und deutschen Frauen. Während er sich über die bunten Orden an seiner Brust streicht, erklärt er: „Ich möchte meinem Land dienen, weil es mir so viele großartige Möglichkeiten geboten hat. Indem ich junge Menschen für die Army rekrutiere, kann ich auch ihnen zu einer besseren Zukunft in Amerika verhelfen.“
Der Krieg im Irak ist für Osorio die Bestätigung, dass Amerika ein starkes Heer braucht. Irgendjemand müsse schließlich die unterdrückte Bevölkerung von Saddam Hussein befreien, sagt er. Sicherlich, die Bilder von den fünf gefangenen US-Soldaten hätten auch ihn geschockt, zumal einer der Soldaten, James Riley, ebenfalls aus New Jersey kommt. „Ich bete jeden Tag für Riley und seine Kameraden“, sagt Osorio, „ich hoffe, dass sie gut behandelt werden. Überrascht hat mich ihre Gefangennahme jedoch nicht, Amerika ist eben im Krieg.“
Die US-Army rekrutiert jedes Jahr um die 80.000 Soldaten. Wer meint, dass die Anwerbezahlen aufgrund des Irakkrieges zurückgingen, hat sich getäuscht. Im Gegenteil, berichtet Osorio, gerade in den letzten Wochen hätten sich mehrere Männer in ihrem Büro gemeldet, weil sie für ihr Land kämpfen wollten.
Anders als in Deutschland gibt es in den USA keine Wehrpflicht. Die Army besteht aus 485.000 Berufssoldaten, 23 Prozent davon sind weiblich. Zusammen mit den Angehörigen der Marines, der Navy und der Airforce umfassen die US-Streikräfte 1,3 Millionen Menschen. Bewerben kann sich, wer zwischen 17 und 34 Jahren alt ist und eine abgeschlossene Schulausbildung hat. Die Militäranwärter müssen keine amerikanischen Staatsbürger sein, es reicht, wenn sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis haben.
Über 2.000 Angestellte der Army arbeiten im Rekrutierdienst und sorgen dafür, das ständig Nachschub hereinkommt. Sie verteilen Hochglanzbroschüren in Einkaufszentren und Jugendtreffs, sprechen junge Leute auf der Straße an und erzählen ihnen von den unbegrenzten Möglichkeiten einer Soldatenkarriere. Am begehrtesten sind die ganz jungen Kandidaten, die von der Schulbank weg direkt für den Dienst in der Army rekrutiert werden.
Jorge Osorios Büro, das „Army Career Center“, liegt an der Hauptstraße von Elizabeth, eingezwängt zwischen dem ausgebrannten Kino „Liberty“ und einem Striptease-Club namens „Cinderella’s Go-Go Palace“. Sobald der Sergeant wieder zurück im Büro ist, setzt er sich an seinen Schreibtisch und fängt an, eine lange Liste mit Schülernamen durchzutelefonieren. Er bietet den Eltern einen Beratungstermin an, wahlweise als Hausbesuch oder bei sich im Büro. Seit der US-Kongress im vergangenen Jahr das Jugendförderungsgesetz „No Child Left Behind Act“ verabschiedet hat, sind alle staatlich finanzierten Schulen in den USA dazu verpflichtet, dem Verteidigungsministerium eine vollständige Liste mit den Namen, Adressen und Telefonnummern ihrer 16 und 17 Jahre alten Schüler zur Verfügung zu stellen. „Dieses Gesetz hat unsere Arbeit unglaublich erleichtert“, sagt Osorio. Natürlich reagierten manche Eltern gereizt auf die Anrufe, aber die wüssten meist nur nicht, was die Army ihren Kindern alles zu bieten habe. Alle junge Rekruten erhalten neben ihrem monatlichen Gehalt ein Ausbildungsstipendium zwischen 26.000 und 50.000 Dollar. Die Höhe des Stipendiums hängt davon ab, für wie viele Jahre sie sich verpflichten, ob sie nebenbei noch studieren wollen und wie gut sie in den Aufnahmetests abschneiden.
Den Vorwurf, die Army nutze die finanzielle Benachteiligung junger Einwanderer gezielt aus, um sie in den Militärdienst zu locken, wehrt Osorio energisch ab. „Wir sind bei der Army nur deshalb so beliebt, weil wir motiviert sind und hart arbeiten können.“ Auch der Gedanke, dass die von ihm angeworbenen Jugendlichen schon bald in einem weiteren amerikanischen Krieg töten oder getötet werden könnten, beunruhigt ihn nicht im Mindesten. „Wenn dein Land in Gefahr ist, dann musst du einfach tun, was man dir befiehlt und das nicht in Frage stellen.“
Die Anzahl der angeworbenen Schüler ist daher ein wichtiges Erfolgskriterium im Rekrutierungsbüro von Elizabeth. An der Wand, gleich neben der US-Flagge, hängt ein Poster mit den Bildern der fünf Angestellten, die hier arbeiten. Neben ihren Porträts kleben Polaroidfotos von frisch rekrutierten Soldaten mit Kindergesichtern. Den derzeitigen Rekord hält Sergeant Dean Anderson. Der 31 Jahre alte Infanterist aus Pennsylvania hat in diesem Jahr schon sechs Schüler zum Unterschreiben des Vertrages bewegen können.
Drei von ihnen besucht er an diesem Nachmittag in der Linden High School. Die Anwärterinnen sitzen in einem Aufenthaltsraum, der mit Sportpokalen und USA-Landkarten dekoriert ist. Während sie ihr Mittagessen in sich hineinschlingt, erklärt Andrea Loria, dass sie keine Angst vor dem Krieg habe. Lieber heute als morgen würde das schmächtige 19-jährige Mädchen aus Costa Rica ihre Militärausbildung beginnen, in der Schule gefällt es ihr überhaupt nicht. Emily Gomez aus Puerto Rico ist dagegen etwas besorgt. Mit einem starken spanischen Akzent erzählt sie, dass sie Ende Mai mit der Schule fertig sein wird und im August ihre Grundausbildung beginnt. „Ich hoffe, dass der Krieg bis dahin vorbei ist“, sagt sie, „ich habe Angst, dass ich gleich in meinem ersten Jahr mobilisiert werde.“
Beide Mädchen sind fasziniert von Andersons Kriegserlebnissen, wollen mehr hören von seinen Auslandseinsätzen im Dschungel von Panama oder in der Wüste von Oman. Anderson ist seit neun Jahren bei der Army, er ist Spezialist für Guerillabekämpfung und Häuserkampf.
Mitten in seinen Erzählungen wird er durch eine stürmische Umarmung unterbrochen. Seine dritte Rekrutin heißt Lina Romero. Sie hat ihre letzte Unterrichtsstunde hinter sich gebracht, betritt den Aufenthaltsraum und begrüßt Anderson wie einen alten Freund. Die 17-jährige Kolumbianerin ist Andersons Liebling. Anerkennend lobt er sie: „Lina ist tougher als die meisten Jungs.“ Das dünne Mädchen mit den langen schwarzen Haaren, den engen Jeans und dem Glitzertop sieht alles andere als zäh aus. Doch auch sie sagt, dass sie fest entschlossen ist, Soldatin zu werden.
Wie für tausende von jungen Einwanderern sind auch für Lina Romero die US-Streitkräfte die einzige Möglichkeit, der Armut und Perspektivlosigkeit zu entfliehen. Im Juli beginnt sie ihre neunwöchige Grundausbildung, anschließend will sie zur Militärpolizei. Wenn es nach ihr ginge, würde sie schon in diesem Krieg mitkämpfen, vor dem Tod habe sie keine Angst. Sie sagt: „Wenn ich für mein Land sterbe, dann werde ich eine amerikanische Heldin sein.“