: berliner szenen Der U-Bahn-Ansager, live
Verrückt und verliebt
Manchmal ist die U-Bahn wie ein Hörspiel. Man sitzt auf seiner Bank, träumt ein wenig vor sich hin und eine Männerstimme sagt das Übliche: „Nächste Station Mitte, Fahrgäste, die nach Sowieso wollen, gehen nicht über Los, sondern gleich ins Gefängnis“ usw. Aber etwas irritiert: Die Stimme kommt nicht aus dem Lautsprecher, sondern ist live und ein paar Meter hinter einem. Wenig später sagt eine andere Stimme das Gleiche, nur diesmal kommt sie ganz normal aus dem Lautsprecher. Komisch. Einerseits ist man neugierig, andererseits schaut man sich dann doch nicht um. Ein bisschen zweifelt man auch, ob da tatsächlich eine echte Liveperson ein paar Meter hinter einem U-Bahn-Ansagen aufführt. Wenig später wiederholt sich das. Irgendwie ist man zwar neugierig, guckt aber nicht, um nicht von potenzieller Verrücktheit berührt zu werden. Niemand kommentiert den U-Bahn-Ansagen-Wiederholer, der, wenn man genauer hinhört, klarer und weniger schnarrend ansagt als das offizielle Band.
Erst beim Aussteigen sieht man den Mann an. Er ist schlank, hat einen schmalen Oberlippenbart im eher blassen Gesicht und wirkt auch sonst sehr ordentlich. Um ihn herum meint man einen Raum peinlichen Berührtseins zu spüren – so wie neulich auf dem Alex um den Demonstrierer, der sein „Scharon & Bush – Ab nach Irak“-Schild hochgehalten hatte. Der Mann in der U-Bahn verlor sein Geheimnis, als mir einfiel, dass es sich vermutlich um Torsten Ricardo Engelholz handelt. Engelholz ist ein begeisterter U-Bahn-Anhänger. Wenn er reist, dann nur um die U-Bahnen anderer Städte kennen zu lernen. Vor ein paar Jahren hat Elfie Mikesch einen Dokumentarfilm über ihn gedreht: „Verrückt bleiben – verliebt bleiben“.
DETLEF KUHLBRODT