: Ein Riese in Ballettschuhen
Deutschland wird in naher Zukunft eine bedeutendere Rolle einnehmen müssen als in der jüngsten Vergangenheit – schon aus Verantwortung gegenüber seinen Partnern
Bisher sind alle Bemühungen gescheitert, der Nato ein zeitgemäßes Kleid zu schneidern. Die USA hätten es gern, wenn die Allianz ihnen in der irakischen Misere unter die Arme greift. Doch zu sehr haben sie selbst gegen eine Atmosphäre der Partnerschaft gearbeitet, zuletzt durch ihr arrogantes Auftreten vor und während des Irakkrieges. Für die neuen Mitglieder, die aus dem Osten Europas dazustoßen, strahlt die Nato vor allem eine nostalgische Attraktion aus. Wer möchte es den Tschechen oder Polen verübeln, dass sie in der Nato nach wie vor einen Sicherheitsgaranten gegenüber dem trotz Machtverlust nach wie vor nicht zu unterschätzenden russischen Einflussbereich sehen. Dennoch ist es ein Irrtum, zu glauben, Solidarität aus der Geschichte reiche aus, um die Zukunft des Bündnisses zu sichern.
Der Nato mangelt es nicht nur an einer neuen, längst überfälligen Konzeption. Die Bündnispartner trennt inzwischen auch eine unterschiedliche Gewichtung politischer und militärischer Mittel zur Lösung von Konflikten. In der Terrorbekämpfung neigt man in den USA zu einer von den Militärs dominierten Strategie. In Deutschland dagegen hat man längst erkannt, dass ein solcher Kampf, ohne eine kulturelle Auseinandersetzung, in der auch die Ursachen terroristischer Gewalt ins Blickfeld rücken, kaum mit Erfolg geführt werden kann. Die Fundamente der Allianz sind angegriffen. Da nützt es wenig, dass sich das Territorium, auf dem diese Fundamente mehr wanken als stehen, vergrößert.
Wenn Politiker nicht mehr weiterwissen, sprechen sie immer von Visionen. So wird es sicher auch jetzt nicht an Visionären mangeln, die immer neue Aufgabengebiete für die Nato ausfindig machen. Doch ein realistischer Blick in die Gegenwart genügt, um festzustellen, dass selbst im als Kooperationserfolg dargestellten Afghanistan und auf dem Balkan nur fragile Ergebnisse erzielt worden sind, die teils auf der Anstrengung einzelner Bündnismitglieder wie Deutschland basieren.
Tatsächlich wird Deutschland in naher Zukunft auf der Weltbühne eine bedeutendere Rolle einnehmen müssen als in der jüngsten Vergangenheit. Die historisch bedingte Zurückhaltung ist keine tragfähige Grundlage mehr, um europäische Sicherheit und auch nationale außenpolitische Interessen, die offener formuliert werden müssten, zu garantieren. Deutschland kann nicht ewig dem eigenen Gewicht ausweichen. Gefordert ist ein nüchterner, gut ausbalancierter und vor allem zumindest mit dem französischen Nachbarn abgestimmter Umgang mit der eigenen Macht. Etwas unbeholfene Ansätze für eine solche Machtpolitik lieferte die Begleitmusik zum amerikanischen Alleingang im Irak. Auch wenn ihre Inszenierung vieles zu wünschen übrig ließ und durch die Instrumentalisierung im Bundestagswahlkampf zumindest an Würde verlor, die eingeschlagene Richtung stimmte.
Wenn man heute die deutsche Rolle in der Weltpolitik betrachtet, könnte man meinen, Deutschland sei ein Riese in Ballettschuhen. Um nicht missverstanden zu werden, niemand trauert den schweren Stiefeln „Made in Germany“ nach, die so viel Unheil über die Welt gebracht haben. Das demokratische Nachkriegsdeutschland aber steht heute in Verantwortung, sowohl gegenüber den eigenen Prinzipien als auch gegenüber seinen Partnern. Und das angesichts einer komplexen Weltlage. Nach der Überwindung des Kalten Krieges ist keine neue funktionsfähige Weltordnung entstanden, sondern ein quasi anarchischer Zustand, der in der arabischen Welt den Terrorismus anfacht und die nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam errungene internationale Rechtsordnung gefährdet.
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben unter der machtmonopolistisch agierenden Bush-Administration ihre Führungsrolle weitgehend verspielt. Sie sitzen im Irak konzeptionslos in der Falle und werden zwischen den unterschiedlichen Interessen verschiedener Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften zermürbt. Schmerzlich ist in diesen Tagen das Fehlen einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik spürbar. Deutschland muss aktiver werden, um voranzubringen, was unerlässlich ist, eine an Prinzipien der Demokratie und Menschenrechte orientierte, dem Primat der Diplomatie folgende Außen- und Sicherheitspolitik.
Es ist beispielsweise begrüßenswert, dass das Auswärtige Amt einen kulturellen Dialog mit der islamischen Welt fördert. Auch das wenig populäre Engagement für den Beitritt der Türkei zur EU weist in die richtige Richtung. Ohne die Einbindung der Türkei würde es keine effektive europäische Nahostpolitik geben, ebenso fehlte im Dialog mit der islamischen Welt ein erprobter, in seiner Region wichtiger, weil einflussreicher Partner.
Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kann es nur geben, wenn die Interessen weitgehend deckungsgleich sind. Deutsche, französische und türkische Interessen sind sich so nahe gekommen wie noch nie. Frankreich hat letztendlich begriffen, dass es als Einzelgänger auf der Weltbühne praktisch keine Rolle mehr spielt. Türkei und Deutschland verfolgen in der islamischen Welt dieselben Ziele. Einen Wandel durch Annäherung. Sensible Diplomatie statt Kriegstreiberei. Neben Deutschland ist die Türkei derzeit das einzige Land, das zwischen den Israelis und den Palästinensern vermitteln könnte. Beide Länder genießen Vertrauen auf beiden Seiten. Auch in der Lösung des Irakkonflikts fällt Deutschland und der Türkei eine Schlüsselrolle zu: der Türkei als das einzige westlich orientierte Nachbarland des Irak, Deutschland als Hauptgegner des Irakkrieges. Unabhängig von der Beitrittsfrage wäre es heute absolut wünschenswert, dass die Türkei stärker in die deutsch-französische Kooperation einbezogen wird.
In Ankara verhält man sich abwartend. Man möchte es sich mit den USA nicht verscherzen. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass ein Auseinanderfallen des Irak unmittelbare Auswirkungen auf die Türkei hätte. Doch anders als die Osteuropäer haben es die Türken vermieden, vorbehaltlos in das amerikanische Boot einzusteigen. Von Anfang an waren sie die mahnende Stimme, die auch in Washington mehr und mehr auf Gehör stößt.
Die transatlantische Krise ist eine Tragödie mit komödiantischen Untertönen. Denn sie basiert nicht wirklich auf Interessenkonflikten, sondern weitgehend auf Dilettantismus der politischen Machthaber beider Seiten. Solange die Bush-Administration an der Macht ist, scheint eine Besserung nicht in Sicht.
Europa müsste diese Zeit nutzen, um eine eigene in sich stimmige Außenpolitik zu formulieren. Solange die Amerikaner, nach der Devise vorgehen, „wer nicht mit uns geht, ist gegen uns“, bleibt die Nato blockiert. Doch europäische Sicherheitsinteressen können weder auf das transatlantische Bündnis verzichten noch auf eine den eigenen Prinzipien und Interessen gemäße Politik. Ein Drahtseilakt, für den Ballettschuhe vielleicht gar nicht mal so schlecht sind. ZAFER ȘENOCAK