Das Problem der hohen Missbrauchsrate

Der Stadtstaat Bremen gehört mit 254 Missbrauchsfällen zu den traurigen Rekordhaltern im Länder- und Städtevergleich. Experten sagen: „Jeder Fall ist einer zu viel“ – doch sei in Bremen das Dunkelfeld vergleichsweise klein

bremen taz ■ Polizisten runzeln besorgt die Stirn. Beim Kindesmissbrauch liegt Bremen in der polizeilichen Kriminalstatistik bundesweit ganz vorne. 230 Fälle wurden im vorvergangenen Jahr in der Hansestadt 126 Tatverdächtigen zugerechnet. Im gesamten Land Bremen wurden 254 Taten registriert, ein Fünftel mehr als im Vorjahr. Damit kommen auf 100.000 EinwohnerInnen im Land 38, in der Stadt Bremen rund 40 Sexualverbrechen, die sich gegen Kinder unter 14 Jahren richten. Vergewaltigung und Sexualmorde sind dabei nicht inbegriffen.

Auch wenn die Bremer Fallzahlen ersten Prognosen zufolge im vergangenen Jahr wieder leicht gesunken sind, hat Bremen damit einen gehobenen Platz im Städtevergleich. „Jeder Fall ist ein Fall zu viel“, sagen denn auch sämtliche Experten. Und doch sind sie über die Bremer Statistik nicht nur unglücklich.

„Aufklärung trägt Früchte“

„Der reine Statistiker sagt natürlich ‚mein Gott‘“, so der zuständige Bremer Kripo-Experte, Werner Meyer. „Aber man kann diese Zahlen auch als Erfolg werten.“ Denn aus seiner Sicht stecken mehr als ein Jahrzehnt Aufklärungsarbeit durch etliche Personen und Organisationen dahinter. Arbeit, die Früchte trägt, indem mehr Hinweise auf diese Verbrechen eingehen oder Betroffene den Gang zur Polizei weniger scheuen. Dazu gebe es ein gut ausgebautes Angebot an Beratung und Hilfe. Deshalb, so Meyer, sei in Bremen die Zahl der Anzeigen in den letzten zehn Jahren von 177 (1993) auf 254 im Land gestiegen.

Auch aufrüttelnde Verbrechen wie das Verschwinden und die Ermordung des Bremer Mädchens Adelina und des Jungen Dennis in Osterholz-Scharmbeck in 2001 tragen zu erhöhten Fallzahlen bei. „Dann gehen vermehrte Hinweise auf mögliche Straftäter bei uns ein.“ Meyer ist selbstbewusst: „Wir gehen davon aus, dass wir in diesem Bereich, in dem es traditionell eine hohe Dunkelziffer gibt, in Bremen verhältnismäßig viele Fälle ins Hellfeld führen konnten.“

Dunkelfeld Deutschland

Diese Erklärung stützt der Kriminologe Peter Wetzels. Vor dem Ruf an die Universität Hamburg hatte er jahrelang im Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover über sexuellen Missbrauch an Kindern geforscht – und dabei auch Bremer Polizisten fortgebildet. Er weiß: „Bei inzestuösen Taten, die ein Fünftel aller Missbrauchsfälle ausmachen, liegt die Dunkelziffer beispielsweise bei 95 Prozent.“ Überhaupt sei das Dunkelfeldproblem gerade bei Sexualstraftaten „eines der virulentesten Themen in der Kriminalpolitik.“ Denn die letzte Forschung dazu liege in Deutschand zwölf Jahre zurück – während in England, Holland und Schweden alle zwei bis drei Jahre solche Studien durchgeführt werden. „Sogar afrikanische Länder machen das, um die Aussagekraft ihrer Daten einschätzen zu können“, ärgert sich Wetzels. Doch hierzulande fehle diese Grundlage, um Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik kritisch zu hinterfragen. „Bedauerlicherweise“ – denn mit einem solchen Instrument ließen sich Opferinteressen wesentlich besser vertreten. Ebenso die der Polizei.

Statistik taugt nicht für Erklärungen

„Erfolgsgeschichten wie zum Beispiel in Bremen oder auch Köln werden kaputtgemacht“, weil ohne Dunkelfelderhebungen viele die Zahl der statistisch registrierten Straftaten für ein bedrohliches Maß hielten. So gerieten in den Medien vor allem jene erfolgreichen Ermittlungsbehörden schnell an den Pranger, die wegen eines verkleinerten Dunkelfeldes hohe Deliktzahlen zu vermelden hätten.

Zugleich warnt Wetzel davor, aus „Zahlen in bremischer Größenordnung gleich auf eine Entwicklung des Phänomens zu schließen.“ Dazu eigne sich die Polizeiliche Kriminalstatistik nicht.

Möglicherweise ist dies also der einzige Ansatz, um die Unterschiede zwischen Bremen mit seinen 540.000 EinwohnerInnen und 230 Fällen einerseits und Städten wie Hannover (507.000 Einwohner) mit 66 oder Frankfurt (650.000 Einwohner) mit 55 registrierten Fällen von Kindesmissbrauch im Jahr 2002 zu erklären. Doch gilt für alle Städte gleichermaßen, dass Kindesmissbrauch häufiger registriert wird, als Vergewaltigungen. ede