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Archiv-Artikel

Das sozialdemokratische Ich

Schröder bleibt zentrale Figur der SPD, Müntefering wird Seelenmasseur im Sanatorium SPD. Das Dilemma der Partei wird so nicht gelöst, sondern nur besonders gut sichtbar

Das herrschende Setting zwingt Sozialdemokraten zu einer permanent unmöglichen Position

Auf das große Stühlerücken an der Spitze der SPD folgten die hektischen Stunden der flinken Analysen. Schnell wurden Vergleiche mit der spannungsreichen, aber fruchtbaren Konstellation Schmidt/Brandt angestellt. Noch nie, fügen geschichtskundige Deuter hinzu, stand ein Kanzler einer so mächtigen Gegenfigur gegenüber: Franz Müntefering konzentriert mit Partei- und Fraktionsvorsitz bald zwei Schlüsselämter in einer Hand.

Wie so oft hinkt auch hier der historische Vergleich. Im Grunde stimmt nur die oberflächlichste Analogie: Kanzlerschaft und Parteivorsitz sind nicht mehr in einer Hand. Doch während in der Ära Schmidt drei große Figuren, jeder auf seine Weise knorrig, charismatisch, auch exzentrisch, sich gegenseitig in Schach hielten – Helmut Schmidt, Willy Brandt und Fraktionschef Herbert Wehner nämlich – bleibt, unbenommen aller Ämterrochaden, bis auf weiteres Gerhard Schröder Zentralgestalt der SPD. Daran kann der durchaus erstaunliche Aufstieg Münteferings nichts ändern, mag der Sauerländer in seiner zähen Zielstrebigkeit auch lange unterschätzt gewesen sein.

Im Gegenteil: Noch nie hat eine Person die deutsche Sozialdemokratie so einsam überragt wie Schröder. Noch der verträumteste Traditionslinke wird keinen Augenblick daran zweifeln: Nur Schröder kann für die Partei Wahlen gewinnen, nur Schröder hat dieses Leittier-Gen, ist jenes political animal, auf das eine Partei, die die Macht erhalten will, nicht verzichten kann.

Schmidt musste die Ämtertrennung hinnehmen, Schröder kann sie sich erlauben. Dieser Mangel an kraftvollen Figuren ist eines jener Probleme, deren Folgen der Popularitätsverlust der Regierung ist, jener Popularitätsverlust, der mit der Installation Münteferings bekämpft werden soll. Welch personelle Ödnis die Sozialdemokratie bietet, beweist der Umstand, dass niemand lacht, wenn etwa ein Mann wie Sigmar Gabriel als möglicher Kandidat für hohe Ämter genannt wird.

Die Konzentration des Kanzlers auf das politische Kerngeschäft, die Übernahme des Parteijobs für Müntefering zeigt zudem, welchen Bedeutungsverlust die Parteiorganisation als solche erlitten hat. Man braucht sie als Transmissionsriemen, der die politische Elite mit den Kapillaren der Gesellschaft verbindet, auch als Medium (zumindest als eines unter mehreren), man nimmt ihr gegenüber aber nur mehr eine therapeutische Haltung ein. Man muss sie streicheln, den Aktivisten Zeit widmen, den Funktionären erklären und erklären, sie „mitnehmen“ – wie es so schön heißt. Und dafür braucht man einen, den der Basisaktivist und die Basisaktivistin bei aller Distanz noch als „einen von uns“ erkennt. Einen wie Münte eben. Es wird nicht einmal mehr versucht, diesen herablassenden Gestus zu verhehlen: Kaum eine Wortmeldung eines Parteioberen der letzten Tage kam ohne den Hinweis aus, Müntefering werde vornehmlich „nach innen“ zu wirken haben, von der Art eines Diplompsychologen, der im Sanatorium für gute Stimmung sorgt.

Jetzt gibt es mit Schröder einen, der für die Macht zuständig ist, und mit Müntefering einen Beauftragten für die neue Innerlichkeit. Und das ist einerseits nicht ohne Logik und andererseits selbst Symptom für das Dilemma der neuzeitlichen Sozialdemokratie, das durch die Neuverteilung der Spitzenposten nicht grundsätzlich verändert werden kann. Die Krise, die sich in den vergangenen Monaten auch in den Umfragen für die SPD deutlich niederschlug, ist ohne den grassierenden Reformgeist nicht zu verstehen, jene „alles umfassende politische Ideologie unserer Tage“, wie das der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann nennt. Dabei geht es nicht um notwendige Veränderungen im Einzelnen, sondern um den Zwang zum Neuen, das sich nur in der Verächtlichmachung des Alten erweisen kann. „Wie jede gute Ideologie kann auch der Reformgeist auf Begründungen seiner selbst verzichten“ (Liessmann).

Dieser Geist der Reformitis taucht das gesamte politische Feld in sein Licht. Ein Politiker hat nur Chancen, Wahlen zu gewinnen, wenn er stark und entscheidungsfreudig erscheint, und ein sozialdemokratischer Politiker erscheint dann am sichtbarsten als stark und entscheidungsfreudig, wenn er seine eigene Partei quält, „alte Gewissheiten“ beiseite räumt. Selbst soziale Härten haben in diesem Setting einen Sinn, denn schließlich zeugt nichts mehr von Leadership, als den eigenen Leuten Blut, Schweiß und Tränen zu verordnen. Dies ist das keineswegs geheime Geheimnis des Aufstiegs Gerhard Schröders, darum ist er an Oskar Lafontaine vorbeigezogen und Kanzler geworden. Dass ausgerechnet von dessen Saarbrücker Erben, dem traurigen Heiko Maas, nun Schröders Kanzlerkandidatur 2006 in Frage gestellt wird, gehört zu den absurden Meldungen dieser Tage.

Schröder ist Kanzler geworden, weil er die Distanz zum juste milieu seiner Partei immer zelebrierte. Simpel gestrickte Linke machen es sich zu einfach, wenn sie Schröder das vorhalten wollen: weder ein Einzelner noch eine Partei kann diese Spielregeln leicht verändern. Schröder – vor ihm Tony Blair – haben vorgemacht, wie man diese Regeln akzeptiert und für die eigene politische Formation das Beste daraus macht.

Noch nie hat eine Person die deutsche Sozialdemokratie so einsam überragt wie Schröder

Während konservative Politiker, wenn sie Anleihen beim Thatcherismus nehmen, aber in der Regel mit sich eins sind, zwingt das herrschende Setting Sozialdemokraten dagegen zu einer permanent unmöglichen Position. Sie müssen ein öffentliches Bild von sich pflegen, das ihre Machtbasis stetig untergräbt. Sie müssen modern im neoliberalen Diskurs erscheinen und doch glaubwürdig ein Versprechen auf „soziale Gerechtigkeit“ verkörpern. Daraus folgt zwangsläufig eine Art politischer Schizophrenie, die hohe Schauspielkunst verlangt. Und wenn die nichts mehr nützt, wird sie in eine Art institutionalisierte Schizophrenie verwandelt. „Schröder und Müntefering“, das ist der Versuch, das sozialdemokratische Ich aufzuspalten.

Das kann praktische Vorteile haben. Müntefering ist bestimmt ein talentierter Seelenmasseur, und der Umstand, dass er mehr Zeit für die Partei hat als der Kanzler und gewiss über Organisationstalent verfügt, mag helfen. Die tieferen Ursachen des sozialdemokratischen Dilemmas bleiben aber unberührt. Und dass Schröder und sein Kreis die Ämterteilung als unvermeidbar ansahen, ist auch ein Indiz dafür, dass ein Teil jener Energie, die die Regierungsübernahme von Rot-Grün 1998 und die Bestätigung 2002 möglich machten, aufgebraucht ist. Der Kanzler macht damit deutlich, dass er selbst nicht mehr daran glaubt, seine Rollen je wieder so glaubwürdig ausfüllen zu können wie etwa noch vor eineinhalb Jahren. Nur wird Müntefering die Lücke, die sich geöffnet hat, nicht schließen können. Gewiss kann er es besser als jeder oder jede andere aus dem personellen Reservoir der Partei. Nur spricht das weniger für Müntefering und umso mehr gegen die SPD. ROBERT MISIK