Das Weiße im Feindesauge

Unter Bedingungen moderner Technik trennt sich der Kriegserfolg immer mehr von der Leidenschaft fanatisierter Kämpfer. Wichtiger als sie ist die technische Vorarbeit von Wissenschaftlern und Ingenieuren

von THOMAS THIEL

Vor 2.500 Jahren entschieden Distanzen von wenigen hundert Metern und die anaeroben Kapazitäten organischer Muskulaturen über Glanz und Elend einer Hochkultur: Als die Athener sich auf dem Schlachtfeld von Marathon der versammelten Streitmacht des Perserkönigs Darius gegenübersahen, formierten sie sich zum Kampfverband und setzten aus der Distanz von 150 Metern zu einem weltgeschichtlich folgenreichen Spurt auf ihren Gegner an.

Mit exaktem Timing hatte der athenische Anführer Miltiades den Befehl zur Attacke gegeben. Keine Sekunde zu früh, sonst wären seine Soldaten ohne Atem und Ordnung auf den Feind getroffen; aber auch keine Sekunde zu spät, denn dann wären bereits zu viele der Kämpfer von feindlichen Pfeilen getroffen worden. Das richtige Augenmaß entschied über Erfolg und Niederlage. Vom Feldherrenhügel aus musste der persische König Darius den Untergang seines Heeres und das Ende seines Größenwahns erleben.

Niemand weiß, ob im Fall einer griechischen Niederlage jene europäische Kultur hätte gedeihen können, die die Grundlage von neuzeitlicher Wissenschaft wie von modernem High-Tech-Krieg ist. Kriegführung unter modernen Bedingungen jedenfalls kann auf das Augenmaß eines Miltiades und die Athletik seiner Krieger weitgehend verzichten.

Wenn ein amerikanischer Soldat eine Boden-Boden-Rakete aus dreitausend Kilometer Entfernung abschießt und sein irakischer Gegner mit einer „Patriot“-Rakete antwortet, dann haben sich beide Kontrahenten nie zu Gesicht bekommen. Offensichtlich wird: Das Schlachtgeschehen der Jetztzeit hat sich von geografischen Gegebenheiten gelöst und in den Raum der Technologie verlagert. Der Krieg der Soldaten wird, immer mehr, zur Schlacht der Techniker und Ingenieure.

Zwischen attischer Hoplitenlanze und amerikanischem Cruise-Missile liegen gut zweitausend Jahre Technikgeschichte. Eine Zäsur markiert das Jahr 1794. Damals beschloss der Französische Nationalkonvent, dass die Geschwindigkeit reitender Boten kein Maß mehr für die Kommunikation in Kriegen sein könne. Moderner war es, seine vierzehn Revolutionsarmeen mittels der neu erfundenen optischen Telegrafie zu lenken. Mit der Fernübertragung von Befehlen und Meldungen, resümiert aus heutiger Sicht Medienhistoriker Friedrich Kittler, begann der Krieg, seine Sichtbarkeit zu verlieren. Der Feldherr räumte seinen viel zu leicht angreifbaren Feldherrnhügel, um in der Anonymität seiner Schreibstube – zwischen Telegrafen und Signalapparaten – Strategien und Funksprüche zu entwerfen. Soldatische Muskelkraft blieb freilich unersetzlich.

Die Funktelegrafie, seit 1895 im zivilen Einsatz, wurde erst später für militärische Zwecke genutzt. Das Risiko des feindlichen Lauschangriffs galt lange Zeit als zu groß. Im stolzen Bewusstsein, die erste vollautomatische Codierungsmaschine entwickelt zu haben, präsentierten daher die Nachrichtentechniker der deutschen Armee im Jahr 1917 ihre legendäre „Enigma“, die alle Funksprüche der obersten Heeresleitung über fünf Walzen und eine komplizierte Kombinatorik verschlüsselte und die vermeintlich risikolose Kurzwellenverbindung zwischen deutschen Kampfeinheiten erlaubte.

Der Zweite Weltkrieg geriet damit auch zum Duell zweier Rechenmaschinen. Der deutschen „Enigma“ stand der englische Intelligence Service so lange hilflos gegenüber, bis ein britischer Mathematiker namens Alan Turing seine universale diskrete Maschine erfand, ihre militärische Bedeutung erkannte und sie der britischen Regierung anbot.

Auf der Basis von Turings Maschine, bis heute Grundprinzip jeder Computerschaltung, gelang es den Briten, den ersten funktionsfähigen Digitalcomputer zu bauen und im Buchstabensalat der deutschen Enigma Regelmäßigkeiten zu entdecken. Die folgenreiche Tatsache, dass alle Informationen der Codiermaschine das elektromagnetische Feld durchlaufen mussten, bevor sie beim vorgesehenen Empfänger ankamen, hatte den Briten die Möglichkeit zur rechnergestützten Entschlüsselung gegeben: Die Kriegstechnik hatte das Informationszeitalter eröffnet.

Für den Zweiten Weltkrieg galt teilweise schon, was laut dem amerikanischen Admiral Thomas H. Moorer noch mehr für – aus heutiger Sicht – zukünftige Kriege gelten würde: „Der Sieg in jedem Zukunftskrieg liegt auf jener Seite, die das elektromagnetische Spektrum kontrolliert.“

Der stille Held des Zweiten Weltkrieges, Alan Turing, hatte seinen Einsatzbereich weit jenseits der Frontlinien in der Zurückgezogenheit von Bletchley Park, dem Sitz des britischen Geheimdienstes. Viel zu weit weg, jenes Weiße im Auge des Feindes wahrzunehmen, das der im 19. Jahrhundert lebende Schlachtenanalytiker Paul Bonsart von Bellendorf ab einer Entfernung von 25 Metern zu erblicken glaubte. Genau jenen Reiz, der bei dem Schriftsteller und Soldaten Ernst Jünger einen Rausch freisetzte, der ihn Zivilisation und Technik vergessen ließ: „Ob im Augenblick der Begegnung roh gekantete Beile geschwungen werden oder ob sehr feine Technik die Vernichtung zu höchster Kunst erhebt, stets kommt der Punkt, wo aus dem Weißen im Auge des Feindes der Rausch des roten Blutes flammt. So seltsam es klingen mag: Der Anblick des Gegners bringt neben letztem Grauen auch Erlösung von schwerem, unerträglichem Druck.“

Jünger hatte den Ersten Weltkrieg im Schlachtengraben erlebt und aus diesem Erlebnis seine lüsterne Rhetorik geformt. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehörten jedoch auch Schlachtengräben mehr und mehr der Vergangenheit an. Krieg war von nun an eine Sache der Mikroelektronik und der Informationsverarbeitung.

Erst im zweiten Golfkrieg trat die kriegswichtige Bedeutung der Information ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Operation „Desert Storm“ im Jahre 1991 prägte den Begriff „Information Warfare und machte ihn zum zentralen Begriff militärstrategischer Debatten. Seit Maschinen Wenn-dann-Befehle aufnehmen und verarbeiten konnten, war auch die Möglichkeit gegeben, die physikalische Wirklichkeit des Schlachtfelds in digitale Informationsflüsse zu verwandeln – und diese Daten zu manipulieren. Das hatte Konsequenzen. Mit gezielten Attacken der USA auf Iraks Kommunikationszentren begann der zweite Golfkrieg. Ziel des Angriffs war es, die Verständigung innerhalb der irakischen Truppen lahm zu legen und den Gegner durch per Computer eingeschleuste Desinformationen irrezuführen.

Schon fünf Wochen vor dem eigentlichen Kriegsbeginn hatten amerikanische Satelliten die Stellungen des irakischen Luftabwehrsystems ausgekundschaftet. Bei Schlachtbeginn konnten die gesammelten Informationen nun verwertet werden – mittels ferngelenkter Waffen, die den Befehl zur zielgerichteten Attacke erhielten.

Nicht mehr das Objekt an sich, sondern seine Sichtbarkeit auf dem Radarbild entscheidet in diesem informatischen Krieg. Weil das, was geortet werden kann, schon verloren ist („First look, first shot, first kill“), geht es vor allem darum, die steilflankigen Computerimpulse des feindlichen Radars zu dechiffrieren und die eigenen zu tarnen. Über Erfolg und Misserfolg entscheidet letztlich die Rechenkapazität.

Auch unbemannte Kampfdrohnen und ferngelenkte „intelligente Bomben („smart bombs“) sind das Resultat gesteigerter Computerleistungen. Die milliardenschwere Förderung der Entwicklung von künstlicher Intelligenz in den USA hat Waffen zu bauen ermöglicht, die über eigene so genannte Intelligenz verfügen und – laser- oder infrarotgesteuert – ihre Fluganweisungen bis auf den Meter genau umsetzen: Bomben, die ihre geplante Flugkurve verändern können.

Den französischen Kriegstheoretiker Paul Virilio veranlasste die fast chirurgische Präzision der neuen Waffen dazu, Bodentruppen nur noch als eine Art Einsatzpolizei zu betrachten. Eine These, die der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld allzu wörtlich nahm. In der Euphorie über die eigene technologische (und ideologische) Überlegenheit glaubte er mit minimaler Truppenstärke auskommen zu können. Er irrt sich, wie jede Nachrichtensendung dieser Tage beweist.

Die Maßstäbe der menschlichen Wahrnehmung haben sich mit der üblichen Verspätung dem technischen Fortschritt angepasst. Noch vor dem Afghanistankrieg warnte der Exfremdenlegionär Peter Scholl-Latour vor der Unbezwingbarkeit des afghanischen Hochgebirges. An dem würden die USA wie einst die Sowjetunion scheitern. Moderne Militärtechnologie betrachtet topografische Unebenheit jedoch nicht als Hindernis: Mit dem Global Positioning System ausgerüstet, konnten US-Spezialtruppen ihren Piloten die Koordinaten der Höhlenverstecke der Kämpfer Ussama Bin Ladens angeben. Zielgenaue Abwürfe von Streubomben taten ein Übriges.

Noch bleibt im hoch technisierten Krieg Platz für Mythen: Auf dem Rücken eines Esels, heißt es, sei Bin Laden entkommen.

Und nicht allein in der Unberechenbarkeit von Guerillakriegen findet der kybernetische Krieg seine Beschränkung. Das grundsätzlichere Problem haust in der Logik des digitalen Schlachtfelds selbst: Je mehr Informationen über feindliches Kampfgebiet gewonnen werden, desto schwieriger ihre Koordination.

Die physikalische Wirklichkeit sperrt sich gegen ihre komplette Verwandlung in binäre Information. Der Versuch endet in den typischen Euphemismen militärischer Diktion: dem vom „Friendly Fire“, das die eigenen Flugzeuge trifft, dem von den „Kollateralschäden“ unter irakischen Zivilisten. Am Problem der Komplexität findet Planbarkeit ihre Grenzen.

Zurück zum Schlachtfeld von Marathon. „Die Athener“, schreibt der Chronist Herodot, „waren der erste unter allen hellenischen Stämmen, die den Feind im Laufschritt angriffen.“ Sie hatten eine neue Geschwindigkeit (und damit eine neue Technik) in den Krieg gebracht. Heute haben sich Technik und Geschwindigkeit in Dimensionen gesteigert, die kein Auge einschätzen, kein Ohr hören kann. Moderne Kriegführung hat sich von den Sehnerven und Muskelfasern gelöst, um in die Mechanik der Sprengköpfe und den Elektronenfluss integrierter Schaltkreise zu wandern. Trotzdem: Hinter jedem Knopfdruck, hinter allen Elektronenflüssen verbergen sich menschlicher Plan und Wille.

THOMAS THIEL, 28, taz.mag-Hospitant, studierte Geschichte und Germanistik in Heidelberg