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Archiv-Artikel

Weiße Schuhe genügten schon

Müde Bauern und ernste Kinder, ausgelassene Demonstranten und lachende Soldaten: Die Galerie Giedre Bartelt zeigt rund 70 Fotografien aus den Jahren 1960–1989, die die Sowjetunion zeigen, wie sie auch war, wie sie aber nicht aussehen durfte

VON JÖRG SUNDERMEIER

Churchill hat einmal gesagt, man wisse, dass man ein einer Demokratie lebe, wenn es morgens um fünf Uhr an der Tür klingelt, und es könne niemand anderes als der Milchmann sein. Das war in der Sowjetunion anders, nicht, wie so oft kolportiert, weil der jeweilige Generalsekretär der KPdSU ein so macht- oder gar blutgeiler Führer war (psychisch gestörten Führungspersonen bedingungslos zu verfallen, ist ein eher deutsches Problem), sondern weil die Partei versuchte, die Idee „Keiner oder alle“ gründlich durchzusetzen – zunächst für die gesamte Menschheit, später nur noch im „Mutterland des Sozialismus“. Und wie immer, wenn eine humanistische Idee von Seiten eines Staatsapparates durchgesetzt werden soll, schlägt der gut gemeinte Prozess um in Terror gegen den Einzelnen. Das Individuum mit all seinen Gelüsten und Gebrechen stört den Ablauf der Befreiung aller qua Zwang, da die Sowjetideologie an eine Befreiung von oben glaubte, durfte das Individuum nicht vorkommen. Es sollte auch nicht angesprochen werden.

Die Fotografie, das idealtypische Medium des sowjetischen Realismus-Ideals, musste daher stets Eigentliches zeigen – das lächelnde Mädchen, das Soldaten zuwinkt, steht für die Freude der gesamten Sowjetbevölkerung. Der ehrliche Kollektivbauer, der die Ernte eingefahren hat, schwitzt den Schweiß der gesamten Sowjetbevölkerung. Der Bus, der Arbeiterinnen und Arbeiter in die Fabrik bringt, steht für technischen Fortschritt. Das wunderbare Theater steht für eine von aller Ausbeutungsideologie befreiten Kunst, für die reine Schönheit.

Doch eine Fotografin und ein Fotograf sind keine Politiksacharbeiter, gerade wenn Realismus das Dogma ist und beklemmende Fotos aus dem kapitalistischen Alltag gern umhergezeigt werden, lernten die sowjetischen Künstlerinnen und Künstler, dass man den Blick schärfen muss und zeigen, was nicht stimmt. Und sei es nur – Selbstkritik wurde groß geschrieben in der Sowjetideologie –, damit man das Kollektiv der Befreiten von einem Missstand befreien kann. Die Fotos von Missständen, von leidenden Subjekten kann man also im besten Sinne als konstruktive Kritik verstehen.

Da jedoch die Partei zugleich einen ökonomischen Notstand zu verwalten hatte und sich in ihrer bürokratischen Sacharbeit immer weiter von ihrer Klientel entfernte, konnte diese Kritik nicht zugelassen werden. Folglich blieb die zugelassene künstlerische Produktion in jener Ästhetik der Dreißigerjahre stecken, und noch immer lächelten Mädchenmünder in die Kameras ein symbolisches Lächeln für eine Sowjetunion, die nicht mal mehr eine Hoffnung auf Erlösung war.

Dieser Realismus hatte nichts mit der Realität zu tun. Doch die Realität, so glaubte der Apparat, sei den Menschen nicht zumutbar. Die Galerie Giedre Bartelt zeigt nun rund 70 Fotografien aus den Jahren 1960–1989, die die Sowjetunion so zeigen, wie sie auch war, aber nicht aussehen durfte. Kuratiert wird die Ausstellung von Margarita Paskeviciute, die 23 Jahre lang Mitglied in der Sowjetischen Gesellschaft für Fotokunst war. Sie berichtet, dass das wichtigste Utensil in ihrer Arbeitszeit ein Schild war, auf dem „Aus technischen Gründen geschlossen“ stand und das sie immer mit sich führte, um es, wenn die Zensoren zu viele Bilder aus einer Ausstellung entfernt hatten, rechtzeitig an die Tür kleben zu können.

Die Bilder zeigen nicht einmal besonders Eindeutiges, so gibt es etwa einen schönen Mann zu sehen, der streng schaut, raucht und sich auf Krücken stützt, Letzteres reichte, um das Bild für zu morbid zu halten. Vergänglichkeit sollte nicht gezeigt werden, ebenso wenig Müll, lachende Soldaten, deren Freude die Marschordnung gefährdet, müde Bäuerinnen und Bauern oder ernste oder behinderte Kinder. Der Apparatschik, der seine eigene Individualität auflöst und sich zum exekutierenden Arm eines abstrakten Systems macht, wird paranoid und muss sich das System, an das einzig er selbst sich versprochen hat, zwanghaft schönlügen – derart, dass er nicht einmal zulassen kann, dass eine Fotografie ausgelassene Demonstranten auf einer Parteidemonstration zeigt. Die Demonstranten haben so ordentlich zu sein wie er selbst. Vor einen solchen Zensurzwang gestellt, genügt es schon, dass ein ordensbehängter Kriegsveteran weiße Schuhe zum schwarzen Anzug trägt oder ein junger Schlacks zu „verwestlicht“ gekleidet ist, das Foto, das dies warum auch immer zeigt, muss weg.

Die Ausstellung ist zu empfehlen, auch, weil sie eine merkwürdige Parallele zur hiesigen Gesellschaft darstellt – das, was diese Fotos zeigen, der Blick auf das Elend, gilt auch hier als ein eher obskuranter. Denn auch hier wird tagtäglich mit Glücksversprechen gehandelt, mit Bildern von einem besseren Leben.

Bis 27. März, Di.–Fr. 14–18, Sa. 12–18 h, Galerie Giedre Bartelt, Linienstr. 161