Der Riss im Weltbild

Sind wir auf dem Weg zur planetarischen Zivilgesellschaft? Voreilige Euphorie ist trotz der weltweiten Antikriegsdemonstrationen nicht angebracht. Die Unterschiede zwischen Industrienationen und Schwellenländern werden gerne übersehen, sobald die Solidaritätsadresse „Wir sind alle Iraker“ ertönt
von JAN ENGELMANN

Ein Land im Ausnahmezustand, fernab des Irakkrieges. Die Oppositionsführerin nennt den Krieg „unvermeidlich“ und muss dafür harte Kritik aus dem eigenen Lager einstecken. Der Regierungschef nimmt indessen wohlwollend den Kosenamen „Che Guerhard“ zur Kenntnis, der ihm von freundlichen Demonstranten entgegengebracht wird. Auffallend viele Teilnehmer der Protestzüge sind Schüler, ihr Engagement wird allgemein gelobt. In den Zeitungen erkennt man „ein Fluidum hippieartiger Sexyness“ (SZ) und freut sich darüber, dass weiterhin bei McDonald’s gekauft wird.

Ein zweites Land im Ausnahmezustand, fernab des Irakkrieges. Der Oppositionsführer nennt den Krieg „unverantwortlich“ und wird von seiner Fraktion gefeiert. Der Regierungschef sieht sich öffentlich als „Mörder“ verunglimpft und aufgebrachte Demonstranten wünschen ihm die Pest an den Hals. Auffallend viele Teilnehmer der Protestzüge sind Studenten, die in Sit-ins die Zentralen der Regierungspartei belagern, faule Eier werfen und mit Unterschriftenlisten auf ein Plebiszit drängen. Von der Polizei werden sie auseinander geknüppelt. In den Zeitungen geraten die eingespielten Frontlinien von rechts und links durcheinander, fast alle Kommentatoren sorgen sich um die Zukunft des Landes und fordern eine Debatte über demokratische Repräsentation. Die Gewerkschaften rufen zu Arbeitsniederlegungen auf und erwägen einen Generalstreik. Alles ist in Bewegung.

Deutschland und Spanien, zwei Länder wie Paralleluniversen. Trotz gemeinsamer Elemente scheint die jeweilige gesellschaftliche Mechanik gegenwärtig anderen physikalischen Gesetzen zu gehorchen. Beide Länder zeigen wie in einem Laborexperiment, dass die gleiche Versuchsanordnung bei wechselnden Außenbedingungen und Parametern zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Zwar ermittelten die Demoskopen bei Deutschen und Spaniern ein sehr ähnliches Meinungsbild zum Irakkrieg, doch sind es stark voneinander abweichende Ablaufmuster und Intensitäten, die bei der Kommunikation ihres Nichteinverstandenseins zum Tragen kommen.

Auf deutscher Seite kann man Phänomene wie Moralkeulenschwingen, Betroffenheitsboxen oder Medienkritikmarathon beobachten, die eher in den Bereich des Vertrauten fallen. Auf spanischer Seite staunt man über ein frustriertes Wahlvolk, das sich nach der galizischen Öl-Katastrophe nicht weiter um das Prestige des Ministerpräsidenten sorgt und eine Art Ekstase der Partizipation erlebt. Dabei ist allerorts die Losung „Wenn sie den Krieg nicht stoppen, stoppen wir die Welt“ zu vernehmen – ein enthusiastisches Zutrauen, die Dinge gegen alle Wahrscheinlichkeit zu beeinflussen, das hierzulande irgendwie abhanden gekommen ist. Während die Spanier ständig neue Aktionsformen erdenken – großangelegter Stromboykott, um die Wirkung eines Bombeneinschlags zu simulieren, gespielte „Invasion“ des Guggenheim-Museums in Bilbao –, ist den Deutschen zu viel Bewegung ihrer Friedensbewegung nicht ganz geheuer.

Für die Theoretiker der „multitude“, die aus der Globalisierung die Entstehung heterogener und widerständiger Mengen ableiteten, muss der historische Moment, den wir gerade durchleben, elektrisierend sein. Denn mit Blick auf die bunten Fahnenmeere in Kairo, Jakarta, Paris oder Melbourne wird die Hoffnung genährt, es ließe sich in der Tat eine „global-lokale“ Öffentlichkeit als Gegenmacht ins Spiel bringen. Endlich scheint somit wahr zu werden, was etwa die niederländische Umweltorganisation Groenfront im vergangenen Herbst als weltweite „season of struggle“ ankündigte: Dezentrale Aktionen on a global scale gegen die grassierende Ökologie der Angst, die gezielt von denjenigen geschürt werde, die günstigen Brennstoff, teure Medikamente, smarte Waffen oder Konjunkturprogramme verkaufen.

Dabei zeigt schon eine flüchtige Analyse der Ansprachen vom 15. Februar, als sich die planetarische Zivilgesellschaft in der Ablehnung des Krieges ihrer eigenen Existenz vergewisserte, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen nach wie vor sind. In Mexiko City spekulierte der Schriftsteller Carlos Montemayor über die wahren Motive der Bush-Administration in einer Weise, wie dies ähnlich in Berlin oder Rom stattfand. Doch dann schlug er relativ bald den Bogen zu einer Gleichung, die den solidarischen Widerstand gegen den amerikanischen Völkerrechtsbruch einem Kontinuum des „antiimperialistischen Kampfes“ zurechnete: „Irakische Brüder, Brüder der Welt, Ihr seid nicht alleine! Wir sind nicht alleine! Sie wollen uns glauben machen, der Krieg sei entfernt und habe nichts mit uns zu tun. Doch dem ist nicht so. Es ist ein Projekt der weltweiten Reorganisation, das schon die Böden Brasiliens aufgekauft, Kolumbien militarisiert und in Venezuela interveniert hat; ein Projekt, welches das palästinensische Volk demütigt und vertreibt, die Selbstbestimmung der Basken verhindert und die Blockade gegen Kuba aufrechterhält.“

Auch in Argentinien, wo die USA als Mitverantwortliche für eine gescheiterte Strukturanpassung und den Staatsbankrott gesehen werden, mochte der Ruf „Wir sind alle Irakis“ vielen sofort einleuchten. Schließlich sehen sich die dortigen Piqueteros längst als Teil eines Patchworks von Globalisierungsverlierern, das dem „Kollateralschaden des Neoliberalismus“ (Naomi Klein) mit kommunaler Selbstorganisation und alternativen Wirtschaftsformen zumindest kleine „Kollateralgewinne“, wie es Jeff Gedmin vom Aspen-Institut in Berlin nennt, abtrotzen möchte.

Der Furor, der sich zu gleichen Teilen gegen die Schicksalslenker des IWF wie gegen die einheimische Politikerkaste richtet, ist verständlich. Im Wahlkampf dominieren wie eh und je die Grinsegesichter der korrupten Gouverneure; Carlos Menem, der einstige Günstling Washingtons, steht wieder ante portas. Insofern nimmt es nicht wunder, dass auch die Argentinier den alten, neuen Lieblingsfeind USA in ihr Protestarsenal eingegliedert haben. Eine Freundin, die als Anwältin in Buenos Aires arbeitet, meinte neulich nicht ohne Sarkasmus: „Die Sparer, die jeden Mittwoch und Freitag vor den Banken demonstrieren, haben ihre Sprüche etwas antibush-mäßig abgewandelt und den Krieg zu ihrem Thema gemacht.“

Ein gemeinsames Projekt allerdings, mit dem sich der Protest in Europa und Lateinamerika synchronisieren ließe, ist weithin nicht erkennbar. Noch fehlt es – abgesehen vom Weltsozialforum – an transnationalen Plattformen, um Erfahrungen gegenseitig abzugleichen und daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. So wird man etwa in Chile das Datum 11. September weiterhin eher mit der epochalen Wendemarke von 1973 (dem Tod Allendes und Beginn der Diktatur) assoziieren als mit jenem Schock der Verletzlichkeit, der den Falken im Pentagon in die Hände spielte. Den Riss im Weltbild, den das Alte Europa erst mit der narzisstischen Kränkung durch die rücksichtslose Bush-Junta erhielt, ist in Lateinamerika lange schon Bestandteil des sozialen und politischen Imaginären. Diese Dissonanz in der Wahrnehmung erschwert es von vornherein, in einen fruchtbaren Dialog über eine andere Weltordnung einzutreten. Hier haken die Kommunikationen, hier verblasst die Rede von Peace & Unity zu einer bloßen, zumal anglophonen Kirchentagslyrik.

Offenkundig bleibt, dass zwischen den Zivilgesellschaften mehr die Formen als die inhaltlichen Begründungen des Protests hin und her flottieren. So sind inzwischen auch die „Cacerola-zos“ in Spanien als Mittel zum Krachschlagen beliebt, aber was sollen sie dort eigentlich erschüttern? Die weltweite Dominanz der G-8-Staaten (zu denen Aznar gerne aufrücken möchte)? Die ungerechte Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates (gegen und mittels derer sich Aznar folgenreich profilierte)? Oder gar die schleichende Kolonialisierung durch amerikanische Produkte und Lebensstile (die Aznar mit texanischem Phantasieakzent noch performativ überbot)? Zu eindeutig sind die Interessenkonflikte zwischen Industrienationen und gebeutelten Schwellenländern, als dass dies mit einem gleichlautenden „No a la guerra“ einfach vom Tisch gewischt werden könnte.

So geben denn auch die Aktivisten der spanischen Friedensbewegung freimütig zu, dass die globale Vernetzung noch ziemlich dürftig ist. Gustavo Roig von „Nodo 50“, einem linken Non-Profit-Service-Provider, der insgesamt 660 Gruppierungen ein „virtuelles Territorium“ zur Verfügung stellt, sieht die Idee einer „multitude“ höchstens im Internet, nicht aber „auf materieller Ebene“ verwirklicht. Zudem misstraut er einer vorschnellen Gleichsetzung des Antikriegsprotests mit der im Buch „Empire“, dem Manifest der Globalisierungskritik, gezeichneten Vision: „Steht die Haltung Frankreichs und Deutschlands nicht in starkem Gegensatz zu dem, was Toni Negri und Michael Hardt zum Absterben des Nationalstaats sagen? Man muss die Logik der politischen Apparate überwinden, die Logik der Wahlkämpfe und der Strukturen. Das ist eine unumgängliche Voraussetzung dafür, dass eine globale Bewegung überhaupt überleben kann.“ Und Alexandro Palomo von Attac Madrid meint: „Was die Frage der Repräsentation angeht, so denke ich, dass in jenen Ländern, wo die Regierungen die öffentliche Meinung ignoriert haben, sich die Debatte auf die Straße verlagert hat. Es wäre fantastisch, wenn man sich nun ein permanentes demokratisches Forum erschließen könnte, das fähig dazu wäre, Alternativen zur neoliberalen und bellizistischen Ordnung der USA zu erdenken.“

Unter dem Pflaster liegt der Strand, so hätte man früher eine solche Utopie in einen griffigen Slogan gefasst. Nun käme es darauf an, dem Ausnahmezustand auf der Straße gerade das Exzeptionelle zu nehmen und sich in der Klage um transatlantische Gräben nicht weiter Sand in die Augen zu streuen. Auch die europäischen Zivilgesellschaften müssen von ihrem bequemen Isolationismus Abschied nehmen. Sonst wird es wieder nichts mit der neuen Supermacht.