: Der Realist aus Königsberg
Kants Todestag jährt sich übermorgen zum 200. Mal. Sein friedenspolitischer Entwurf ist erstaunlich aktuell – das zeigt gerade die Häme, mit der er zum Utopisten erklärt wird
Zweihundert Jahre nach dem Tode Immanuel Kants stehen nicht die aufklärerischen Hauptwerke des Königsberger Philosophen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, sondern seine kleine Schrift „Zum ewigen Frieden“. Sein friedenspolitischer Entwurf besitzt eine erstaunliche Aktualität – doch in Anbetracht der heutigen militärischen Eskalationen, da Regierungen militärisch beseitigt werden, Sprengstoff tragende Selbstmörder die Welt erschüttern und auch Deutschland „am Hindukusch verteidigt“ wird, ist Kant den Bellizisten zur Spottfigur geworden.
In polemischer Absicht hat der US-Vordenker Robert Kagan die „alt“-europäischen Staaten als Inbegriff kantisch-naiver Friedfertigkeit dargestellt. Leider trifft dies auf die europäischen Regierungen viel weniger zu, als von Kagan behauptet. Tatsächlich aber gibt es für einen Verfechter von Frieden und Demokratie angesichts dieser Politik gute Gründe, sich auch jetzt auf Kant zu berufen – und zwar ohne sich den Vorwurf des weltfernen Idealismus zuziehen zu müssen.
Denn Kant war kein Utopist. Als er 1795 seine Friedensschrift vorlegte, bemühte er sich darum, Grundsätze zu formulieren, nach denen der Frieden friedlich herbeizuführen wäre. Auch ist Kants Entwurf kein moralischer Appell, sondern eine Rechtslehre. Kriege bewertet er nicht mehr nach – vordemokratischen – moralischen Kategorien, sondern nach dem Code legal/illegal. Illegal sind demnach alle Kriege, die weder Verteidigungskriege sind noch vom Friedensbund (der heutigen UNO) genehmigt wurden.
Ein solcher Bund ist, als freiwilliger vertraglicher Zusammenschluss gleichberechtigter Staaten, die einzige Möglichkeit, Frieden und Demokratie zu erreichen. Das Kant’sche Programm lässt sich demnach treffend mit dem Schlagwort „Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“ zusammenfassen.
Als Vorbedingung formuliert Kant Verbote: nämlich von Verträgen mit geheimen Vorbehalten, von Schulden zum Zwecke des Krieges und von stehenden Heeren; schließlich das Verbot, Staaten bloß als Boden und nicht als sich selbst Gesetze gebende Gesellschaft von Menschen zu behandeln, und – vor allem – das unbedingte Verbot der Einmischung „in Verfassung und Regierung eines andern Staates“.
Dazu komplementär ist der Prozess der Verrechtlichung. Im Staat fordert Kant den Zustand der „Republik“ – allein dem Volk obliegt die Entscheidung darüber, „ob Krieg sein solle oder nicht“. Da Krieg elementare persönliche Rechte berührt, kann die Entscheidung über den Kriegseintritt auf keinen Fall der Regierung, aber auch nicht parlamentarischen Repräsentanten überlassen werden. Der direkt-demokratische Vorbehalt hat auch den Sinn, die damit verbundene Entscheidung über die Gefährdung der eigenen Verfassung, die in Kriegszeiten sowohl durch die entfesselte Exekutive als auch durch eine mögliche Niederlage bedroht ist, ausschließlich in die Hände der Bürger zu legen.
Wie sehr die rechtlichen Standards jedes am Krieg beteiligten Landes bedroht sind, zeigt sich aktuell an den derzeitigen Sondergesetzen und Ausweitungen der exekutiven Kompetenzen in den USA. Ein absolutes Interventionsverbot in fremde Staaten fordert Kant, da sich kein autoritärer Staat Demokratisierung „erlauben“ könne, wenn er ständiger Bedrohung ausgesetzt sei.
Als zwischenstaatliche Rechtsform bestimmt Kant das Völkerrecht im Völkerbund. Gegen die Forderung nach einem globalen Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsmonopol spricht, dass die Einzelstaaten bereits – wie unvollkommen auch immer – rechtlich verfasst sind. Es geht also um die Demokratisierung des vorhandenen Rechts und nicht um seine (gewaltsame) Transformation durch eine übergeordnete Instanz.
Weltexekutive bedeutet mehrfachen Despotismus: Sie entsteht in der existierenden Staatenwelt als „Universalmonarchie“, sie kann demokratisch nicht kontrolliert werden und neigt aufgrund ihrer ungeheuren Stärke zum Despotismus. Dies gilt auch für den wohlmeinenden Hegemon.
Gleichzeitig kann die Weltexekutive nicht die Freiheitssicherung aller Individuen garantieren; wenn sie zerfällt, entsteht ein endloser Naturzustand, der alles Recht vernichtet. Für den Völkerbund spricht dagegen seine Realisierbarkeit, nämlich als Bund „ohne jede Macht“, der allein auf Freiwilligkeit beruhte und jederzeit kündbar wäre: „Die Ausführbarkeit dieser Idee der Föderalität, die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll, und so zum ewigen Frieden hinführt, lässt sich darstellen.“
Das Weltbürgerrecht vervollständigt die Verrechtlichung, es betrifft jene Konflikte, die zwischen Individuen und Staaten entstehen. Kant schränkt das Weltbürgerrecht ausdrücklich auf ein „Gastrecht“ ein, weil die europäischen Kolonialherren und Händler „Unrecht wie Wasser trinken“ und „besuchen“ stets als „erobern“ verstehen. Hiermit wird ein Schutzrecht für jene Menschen entworfen, die im Konflikt gegen einen anderen Staat keine Zuflucht zu einem eigenen Staat nehmen können. Kant hat damit einen Maßstab für jenen weltbürgerlichen Zustand in einer sich bereits damals globalisierenden Ordnung angegeben, der Nicht-Bürger vor kriminellen Bürgern und staatlichen Organen fremder Staaten an jedem Ort der Erde schützen soll. Er denkt dabei beispielsweise an Sklaverei, die als Rechtsverletzung an allen Plätzen der Erde wahrgenommen werde. Für diese Opfer der Europäer soll das Weltbürgerrecht ein „öffentliches Menschenrecht“ werden. Heute bedeutet dies Ausweitung des weltweiten Asylrechts und die Gewährleistung rechtlicher Standards in den entrechtlichten Produktionszonen der Peripherie.
Verrechtlichung weist nicht nur den Weg zum Frieden, sondern ist zugleich Bewertungsgrundlage für politisches Handeln und gesellschaftliche Zustände. Der Krieg – etwa gegen den Irak – ist dabei nicht nur Bruch des Völkerrechts, er ist auf der Ebene des Staatsrechts ebenso sehr eine Rechtsverletzung der Rechte der irakischen und der amerikanischen Bürger, denn rechtlich betroffen sind in einer Kriegssituation alle mittelbar Beteiligten.
Kant verbindet Frieden und Demokratie auf einzigartige – nämlich friedenserhaltende – Weise und vergisst dabei auch nicht die rechtlich Unterprivilegierten der Welt. Die Heterogenität der sozialen und rechtlichen Verhältnisse weltweit und die Ungleichzeitigkeit ihrer Entwicklung macht Kant dabei zum Ausgangspunkt seines Friedensentwurfs. Dass er hiermit neuralgische Punkte berührt, belegen paradoxerweise gerade Spott und Häme der „Realisten“, die in ihm zu Recht eine ernsthafte Alternative zu ihren Konzepten sehen und ihn daher als realitätsfernen „Idealisten“ verunglimpfen. Ihre Strategie wird aber angesichts einer Lage, die alle militärischen Methoden, „Frieden und Demokratie“ herzustellen, offenkundig immer mehr delegitimiert, zusehends unhaltbar.
OLIVER EBERL