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Archiv-Artikel

Patient Pop

Popmusik heute? Oder wie Lemmy sagt: „Was ist in all die debilen jungen Arschlöcher gefahren?“ Jaja. Wer nur lang genug von der Krise des Pop redet, der redet den Pop in die Krise. Gut so

VON ARNO FRANK

Pop? In der Krise? Es ist dieser Tage nicht uninteressant, zu diesem heiklen Thema ein waschechtes Rockviech zu konsultieren. Jemand wie Lemmy von Motörhead beispielsweise. Ein umgänglicher Mensch, der seit mehr als 25 Jahren immer wieder denselben Song variiert und seinen Frieden mit dem Kommerz gemacht hat – aber hochgeht wie eine Tretmine, wenn er auf TV-Formate wie „Pop Idols“ angesprochen wird: „Wir wissen doch alle, dass Kapitalisten böse sind. Aber was zum Teufel ist in all die debilen jungen Arschlöcher gefahren, die diese Scheiße mit Genuss fressen?“

Jaja, gewiss. Aber: Wettbewerbe im Stil von „Industrie sucht den Superstar“ gab’s im US-Radio schon in den Fünfzigerjahren – lang bevor der Songwriter als authentischer auteur wahrgenommen und nachgefragt wurde. Echte Stars wie Frank Sinatra oder Elvis Presley haben keine nennenswerte Note selbst geschrieben, sondern nur interpretiert, was ihnen ihr damaliger Colonel Bohlen eben diktierte.

Was den Status solcher Größen legitimierte, das war der Stempel ihrer Persönlichkeit im diffusen Schmelz der Stimme. Sie waren Kinder ihrer Zeit und sind längst musealisiert – während die Plattenfirmen die Depots nach Verwertbarem durchforsten. Im Plattenladen oder in der MP3-Tauschbörse kann man so leicht den Eindruck bekommen, ein Jimi Hendrix wäre nach seinem Tode wesentlich produktiver gewesen als zu Lebzeiten.

Dass es tragischen Strebern wie dem vom fordistischen Fließband der Musikindustrie gepurzelten Alexanders Klaws an Authentizität und Kreativität gebricht, kann ernsthaft weder ihm vorgeworfen noch der Popmusik als Agonie ausgelegt werden. Wenn Adorno mit der Beobachtung richtig lag, dass sich das Niveau der Sprache einer Gesellschaft dem Niveau ihres jeweils einfältigsten Teilnehmers anpasst, dann brauchen wir uns über die bestürzende Qualität der heutigen Charts nicht zu wundern. Wenn die populäre Musik wirklich ein Patient ist, so sind Gestalten wie Klaws oder die No Angels nur lästige Pickel an ihrem Hintern.

Darüber hinaus aber wird es als Menetekel empfunden, dass die vitale Regenerationskraft des Pop von der permanenten Präsenz des Immergleichen verklebt wird wie der Filter eines Freibads von den Haaren der Schwimmer. Auch Unsinn. Der Mainstream kennt zahllose Zuflüsse und Abflüsse, aber kein Reinheitsgebot.

Ein Beispiel: Gerade weil die MTV-Show „The Osbournes“ uns an der Dekonstruktion einer randständigen Kultfigur teilhaben lässt, arbeitet sie an deren Wiedergeburt in unser aller Mitte, vollendet durch den Auftritt von Ozzy in der Fernsehsendung „Wetten dass …?!“. Und alle verzweifelten Versuche, Bewährtes zu bewahren, petrifiziert den Pop und führt geradewegs ins Mausoleum der „Rock ’n’ Roll Hall of Fame“.

Popmusik hat das Monopol zur Produktion von Zeichen abgegeben – und zwar ausgerechnet an die Produzenten von unbeseelten Konsumgütern. Der Kulturphilosoph Norbert Bolz sprach unlängst davon, dass der „Kunde keine Güter, sondern Geschichten, Gefühle, Träume und Werte“ kaufe. Man suche diese Gefühle eben nicht mehr in Büchern oder Filmen, sondern in Konsumgütern. Als Apple-Gründer Steve Jobbs Anfang der Achtzigerjahre seine Vorstellungen vom ersten Macintosh-PC formulierte, war seine einzige Forderung: Das Ding solle funktionieren wie ein Bob-Dylan-Song.

Wer nur lang genug von der Krise des Pop redet, der redet den Pop in die Krise. Gut so, denn dort gehört er hin. Sie ist sein eigentliches Element. Wer Ohren hat zu hören, der hört, dass es selten so viel so gute neue Musik gab wie heute.