: Erfahren statt Wissen
Lässt sich denn Pazifismus lernen? Der Reformpädagoge Hartmut von Hentig diskutiert heute im Philosophischen Café des Literaturhauses über Bildungskonzepte nach PISA
von ROGER BEHRENS
Dass wir nunmehr in die Epoche einer Wissensgesellschaft eingetreten sein sollen, ist ein Euphemismus. In dem Befund, heute komme es wesentlich auf Zugang und Verfügungsgewalt über Informationen an, spiegelt sich zunächst nicht mehr als die alte Parole der bürgerlicher Herrschaft, die Francis Bacon ausgab: Wissen ist Macht. Sie wurde im 20. Jahrhundert vor allem von der Sozialdemokratie aufgenommen und ihre Spuren von der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik bis zu den großen Bildungsreformen und Debatten um Chancengleichheit der Nach-68er hinterlassen. Schließlich wurden Internet und andere Medien als die technischen Grundlage einer demokratischen Wissensgesellschaft gefeiert.
Doch ein Blick beispielsweise auf den gegenwärtigen Golfkrieg lässt vermuten, dass die Wissensgesellschaft anders aussieht: Trotz Dauernachrichten bleibt die Informationsflut aus; Wissen scheint hier Ohnmacht zu sein, Krieg selbst, das berufs- und planmäßige Töten von Menschen, eher der Beweis für eine ziemliche dumme Gesellschaft, die ihre Macht noch immer im kruden Kapitalinteresse fundiert, nicht in der Freiheit der Gebildeten und Informierten. Und dann sind es hierzulande vor allem junge Menschen, Schülerinnen und Schüler, die gegen den Krieg demonstrieren, einfach, weil sie wissen, dass Zivilisierte so etwas nicht tun – jene Schülerinnen und Schüler, denen in der europäischen Schulvergleichsstudie PISA gerade zu wenig Wissen bescheinigt wurde.
Eine paradoxe Situation, die den Bildungsbegriff in die Diskussion bringt und damit auch die Bildungstheoretiker, allen voran Hartmut von Hentig. Seit nunmehr 40 Jahren gibt er in die Bildungsdebatte wesentliche Impulse, gilt als Wegbereiter einer Reformpädagogik, die Schule ernst nahm und deshalb kritisierte. In der so genannten Laborschule Bielefeld setzte Hentig sein Konzept erfolgreich in die Praxis um. Hier wurde realisiert, was Hentig den Erfahrungsraum nennt. Egal, ob für die Schule oder für das Leben gelernt wird, es wird gelernt. Und das ist Hentigs Punkt: Schule habe weniger mit instrumenteller Akkumulation von Wissen zu tun, sondern mit dessen lebendiger Vermittlung – und das heißt Lernen.
Moderiert von Reinhard Kahl wird Hentig heute im Philosophischen Café erläutern, was für ihn Die Schule neu denken (so der Titel seines Hauptwerkes) heißt, und darüber hinaus überhaupt die Bildung neu zu denken. Man darf vor dem Denken nicht ins Wissen fliehen, mahnt Hentig. „Bildung ist nicht nur wichtiger als der Jäger 90, die Schwebebahn oder der Ausbau des Autobahnnetzes, sie ist auch wichtiger als die uns gewohnte Veranstaltung Schule“, resümierte Hentig 1996 in seinem Essay „Bildung“. Insofern ist alle Bildung politische Bildung, „Einführung in die polis“. Hentig entwickelt seine Bildungstheorie und -praxis in weltbürgerlicher Absicht; im Gegensatz zu vielen Fachkollegen hat er sich nie auf das Fach, auf die Pädagogik beschränkt.
Doch die Haltung des Weltbürgers erscheint selbst wie ein bisweilen unzeitgemäßer Reflex aus dem bürgerlichen Zeitalter, sperrt sich, das Bildungsproblem konsequent aufzuheben: Hentigs Idee von Bildung bleibt der Hochkultur verpflichtet. Sie kommt über Grimm und Humboldt zumindest dort nicht hinaus, wo es um die bildenden Erfahrungen in der heutigen Kultur ginge; dass im Namen der Bildung auch Massenmord stattfand, bleibt ausgespart ebenso wie die aus der historische Erfahrung abgeleitete Forderung Adornos auch an die Bildung, dass Auschwitz sich nicht wiederhole und nichts Ähnliches geschehe. Die Realität sieht anders aus. Menschen sollen sich nicht gegenseitig umbringen. Sie tun es aber, im Namen der Bildung. Und ist es nicht zynisch, etwa zu proklamieren, der Mensch müsse lernen, nicht zu morden? Übrigens: So wichtig ist Bildung auch wieder nicht.
heute, 19 Uhr, Literaturhaus