: Übergang ins Ungewisse
Wir waren alle einmal Wirtschaftsflüchtlinge: Gerd Fuchs erzählt in seinem historischen Roman „Die Auswanderer“ vom langen Weg nach Amerika
von CHRISTOPH ERNST
„Wer auswandert, tut es nicht ohne Not. Er geht nur, wenn die Gefahr oder der Hunger oder die Hoffnungslosigkeit zu groß werden“, lässt Gerd Fuchs den Ich-Erzähler zu Beginn seines neuen Romans sagen. Fuchs beschäftigt sich mit einem Sujet, das in der deutschen Literatur bislang einigermaßen kurz kommt: der Ära der europäischen Massenauswanderung Ende des vorletzten Jahrhunderts.
Sein Held Tatlin ist Werber für die Hamburger Reederei Hapag, die Auswanderer nach Amerika schafft und in Eydkuhnen an der preußischen Ostgrenze eine Agentur betreibt. Tatlin macht den Menschen mit Geschichten die Neue Welt schmackhaft. Er lebt in Wirtshäusern und auf der Landstraße, ist immer dort, wo die Enge und Unterdrückung unerträglich zu werden droht.
Zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg kehrten mehr als dreißig Millionen Menschen Europa den Rücken. Ein Großteil von ihnen kam aus dem Zarenreich, zigtausende aus Deutschland. Für die meisten wurden Hamburgs Auswandererhallen die letzte Station auf dem Alten Kontinent. Dort schifften sie sich auf modernen Dampfern ein, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts Segelschiffe verdrängt hatten. Diese Stahlkolosse machten die Überfahrt auch für jene erschwinglich, die sich zuvor nie eine Atlantikpassage hätten leisten können.
Die Neue Welt war hart. Ein Drittel derer, die auf Ellis Island im Hafen von New York amerikanischen Boden betraten, überlebten kein Jahr. Viele klagten bald, sie hätten es in der alten Heimat besser gehabt. Doch all das lässt Fuchs offen. Das Buch endet mit der Ankunft des Dampfers „Saxonia“ vor der Küste Long Islands.
Fuchs interessiert der Übergang ins Ungewisse. Er gibt den Millionenschicksalen Gesichter. Wir begegnen Simon Kantor, einem jüdischen Uhrmacher, der mit seiner Frau Ruth und ihrem neunjährigen Sohn David in letzter Minute dem Pogrom in einem galizischen Provinzkaff entkommt; Albert Werth, dem frisch zum Doktor der Medizin promovierten Sohn aus gutem Hamburger Hause, der bei der Choleraepidemie erste Erfahrung mit seiner Ohnmacht als Arzt sammelt; dem Gefreiten Klaus Groth, der desertiert, als er erfährt, dass seine Mutter an der Seuche gestorben ist; und Alma Laufer, der abtrünnigen Ordensschwester. Und Tatlin, dem zynischen Moralisten und lakonischen Berichterstatter, einer verkrachten Existenz, die Bakunin liest, entlaufenen Soldaten zu falschen Papieren verhilft, deswegen irgendwann selber gejagt wird und fliehen muss. Auf den Kontinent, den er jahrelang gepriesen hat und selber nicht kennt.
Fuchs verwebt ihre Geschicke miteinander, entwickelt aus einer raffinierten Collage von Einzelbildern und szenischen Bruchstücken ein Gesamtbild, fast wie in einem spätbarocken Reiseroman, ohne dass das Wiedergegebene damit seinen fragmentarischen Charakter verriete. Es bleibt ein Ausschnitt, eine Serie von Momentaufnahmen, nur zeitweise zu einem sinnträchtigen Ganzen gefügt. Eben das macht eine der Stärken dieses Buches aus. Der Mut, exemplarische Augenblicke zu würdigen, ihnen Sinn zu geben, trotz aller Flüchtigkeit. Ein andere Stärke sind die brillant entwickelten Figuren, die uns nicht zuletzt so unmittelbar berühren, weil Fuchs es meisterlich versteht, das „Zeitlose“ ihrer Nöte, Ängste, Wünsche, Irrtümer und Abgründe bloßzulegen.
So nimmt „Die Auswanderer“ mit Bravour die Hürde, an der die meisten historischen Romane scheitern, deren Stoff hinter vertrauten Stereotypen gilbt. Es geht auch um die Schattenwesen von heute, die Ungezählten, die unterwegs sind, mit bleiernen Knochen in altersschwachen Überlandbussen hocken, stumm und fremd aus Fernzügen klettern, als lebendes Schmuggelgut über grüne Grenzen geistern, auf Wracks in der Adria treiben und erstickt aus Frachtcontainern gezogen werden.
Fuchs bringt sie uns näher, indem er die Uhr kurzerhand um 111 Jahre zurückdreht. Plötzlich haben wir da keine Afghanen oder Albaner mehr vor Augen, sondern unseresgleichen. Wir fangen an zu erinnern, dass der satte Überfluss, in dem wir leben, vor nicht allzu langer Zeit alles andere als die Norm war und dass Menschen seit jeher mit den Füßen abstimmen, wenn der Druck ungenießbar wird.
Und noch etwas: Als ich „Die Auswanderer“ las, musste ich an zwei Bücher denken, die Pate hätten stehen können bei diesem Werk, Anna Seghers’ „Transit“ und Erich Maria Remarques „Nacht von Lissabon“. Denn irgendwie gelingt es dem Autor, an eine Tradition des Schreibens anzuknüpfen, die hierzulande ausgemerzt und ins Exil vertrieben wurde, obwohl und weil sie mit zum Fruchtbarsten gehört, was im letzten Jahrhundert auf Deutsch zu Papier gebracht wurde. So sind „Die Auswanderer“ auch eine literarische Hommage an die, die gehen mussten. Oder eine Art Heimkehr.
Gerd Fuchs: „Die Auswanderer“. Edition Nautilus, Hamburg 2003, 256 Seiten, 19,90 €