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Archiv-Artikel

Geheime Signale kindlicher Gesten

Das Innenleben eines Gründervaters unserer Republik: Die Tagebücher Rudi Dutschkes sind ein berührendes Dokument.Sie sind das Arbeitsjournal eines unermüdlich lesenden Intellektuellen. Rudi erweist sich zudem als Genie der Freundschaft

Das Hamlet-Projekt einer Entlarvung der verdächtigenVater-WeltDie Freiheit eines Christenmenschen steht am Anfang des Wegs zu Mao

von STEPHAN WACKWITZ

Aus einem psychoanalytischen Blickwinkel lässt sich die antiautoritäre Studentenbewegung als Familienroman beschreiben, in dem es um den Ersatz realer durch fantasierte Väter und Großväter ging. Fast alle Väter und Großväter waren in den Sechzigerjahren als Identifikationsgestalten unbrauchbar geworden, weil so viele von ihnen Nazis gewesen waren. So ging eine Generation auf die Suche nach linken Vorbildern und antifaschistischen Ersatzeltern, fantasierte und erträumte sich „den Ersatz beider Eltern oder nur des Vaters durch großartigere Personen“, wie es Sigmund Freud in seinem so kurzen wie folgenreichen Aufsatz „Der Familienroman der Neurotiker“ von 1907 beschrieb. Die antiautoritären Studenten fanden die „großartigeren Personen“ in der intellektuellen deutsch-jüdischen Tradition, bei Freud und Marx; vor allem und mit der intensivsten emotionalen Temperierung in der Zuwendung zu deutsch-jüdischen Dissidenten der Zwanziger- und Dreißigerjahre, bei Bloch, Benjamin, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Reich und Luxemburg.

Es ist deshalb kein Zufall, dass Rudi Dutschke – die charismatischste und sympathischste Führergestalt der von diesem Familienroman bewegten Studenten – vor allem durch die kindlichen Züge in seiner medialen Selbstdarstellung und autobiografischen Selbststilisierung gewirkt hat und heute noch wirkt. Der bubenhafte Vorname; die rebellenhaft herausgewachsene Konfirmandenfrisur; der Ringelpullover. Man muss in der nun erschienenen, von Gretchen Dutschke in dankenswerter Selbstverleugnung fast ungekürzt herausgegebenen, instruktiv mit Fotos illustrierten Ausgabe von Rudi Dutschkes Tagebüchern und autobiografischen Aufzeichnungen noch einmal die Bilder betrachten, um zu wissen, auf welche Weise, aber auch in welchen emotionalen Tiefen dieser Mann seine Generation gerührt hat: das Kinderglück im Gesicht des Studentenführers, wie er auf dem legendären Vietnamkongress im Februar 1968 neben seinem Freund Gaston Salvatore (unglaublich gut aussehende junge Männer der eine wie der andere) lachend die Fäuste hochhebt, als habe die E-Jugend des FC Luckenwalde gerade ein Tor geschossen. Das Foto des noch nicht Vierzigjährigen, schon dem Tod geweihten Grünen-Politikers, der auf einer Versammlung zu einer mütterlich dicken Frau mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes aufsieht, das gerade „Mama, kann ich noch ein Nutellabrot bekommen?“ gesagt hat. „Sie (Gretchen, S. W.) freut sich, dass ich mich endlich gebadet habe. Ich freue mich, dass sie sich gefreut hat“, lautet ein Eintrag von 1970.

Nicht nur aufgrund dieser authentischen, nie kitschig oder phony wirkenden, vielleicht wirklich fast jesuanischen oder franziskanischen Kindlichkeit, Unschuld und Vertrauensseligkeit Rudi Dutschkes jedoch (sie wird sich nach dem Attentat, in den frühen Siebzigerjahren, charakteristischer- und verständlicherweise in einen veritablen Verfolgungswahn wandeln) sind seine Aufzeichnungen fesselnd und bewegend. Rührend und tragisch ist zum Beispiel auch auch die konkrete Poesie seiner Notizen aus der Zeit der Rekonvaleszenz nach dem Kopfschuss: „1.mal wieder die Namen der Freunde aufgeschrieben mit Hilfe von Gretchen im Krankenhaus Westend. Gaston. Christian Semler. Bernd Rabehl. Meschkat. Gollwitzer. Krippendorf. Wolfgang Neuss. Enzensberger.“

Überhaupt muss Dutschke ein Genie der Freundschaft gewesen sein. Besuche von Freunden, Besuche bei Freunden, skrupulös integre Bemühungen um das Austragen und innerliche „Ausdiskutieren“ von Konflikten und Gefühlsstürmen in der ambivalenten Freundschaftsbeziehung zu Bernd Rabehl oder in der oft wohl auch schwierigen Ehe mit Gretchen Dutschke füllen die Seiten des Bandes, Notizen über seine Beziehung zu dem Attentäter, der lang nach seinem eigenen Selbstmord mittelbar zu seinem Todesengel werden sollte, einsichtige psychologische Porträts von prominenten Mitstreitern, Gegnern und unzähligen Zufallsbekannten. Vor allem aber sind seine Tagebücher das Arbeitsjournal eines unermüdlich und unersättlich Lesenden, eines mit Theorien in einem sehr lebenspraktischen Sinn umgehenden Intellektuellen.

Gerade weil Rudi Dutschke kein bedeutender theoretischer Kopf gewesen ist, sind seine Aufzeichnungen ein wichtiges Dokument für die – politisch nicht ungefährliche – lebenspraktische Unmittelbarkeit, mit der die Achtundsechziger-Generation sich mit politisch-soziologischen Theorien identifiziert und sie noch in die alltäglichsten Lebenssituationen „eingebracht“ hat: „Ho (der Sohn Hosea-Che, S. W.) drückt schon jetzt ‚proletarischen Klassencharakter‘ aus, weil sein lebendiges und handelndes Verhalten immer selbstständiger geworden ist; die nun wohl entstandene antiautoritäre Verhaltensweise wird die entscheidende Permanenz der Entwicklung, wenn wir die Methode der Beobachtung richtig handhaben ‚gewährleisten‘ … Diktatur des Proletariats ––– sich ‚rationalisierende‘ Diktatur des Kindes.“

Dutschkes sehr intensive Beziehung zu seinen Kindern, den „Banditen“, wie er sie, in Anspielung auf seinen Lieblingsfilm „Viva Maria“ zärtlich nennt, ist auch unter einem theoretisch-politischen Aspekt aufschlussreich für sein revolutionäres Selbstverständnis. Walter Benjamins Ende der Zwanzigerjahre Asja Lacis zuliebe geschriebener Aufsatz über das Programm eines proletarischen Kindertheaters hat Dutschke für einen in seiner Allgemeingültigkeit noch zu entdeckenden Zentraltext über Kindererziehung überhaupt gehalten. Zugleich aber könnte man mit Grund die Apo selber als proletarisches Kindertheater beschreiben. „Wahrhaft revolutionär“, so endet Benjamins seltsamer, exoterisch marxistisch-leninistischer, insgeheim jedoch eher mystisch inspirierter Text, „wirkt das geheime Signal, das aus der kindlichen Geste spricht“. Eine der kindlichsten Gesten Rudi Dutschkes war es, dass er für seine öffentlichen Auftritte, für sein Sprechen ex kathedra, sich jenes singenden, die Vokale dehnenden und das „R“ rollenden Tonfalls bediente, mit dem er die Stimmen der dissidenten jüdischen Großväter und Väter wiederauferstehen ließ, deren theoretischem Erbe er sich in einer fast schamanistischen Identifikation verpflichtet hatte (das Verhältnis zu Ernst und Carola Bloch hat den linken Familienroman bis zu Rudis Tod in eine Art Wirklichkeit überführt). Es ist Rudi Dutschke in seinem politischen Agieren um eine kindliche Wiederauführung der Theorien und Dramen der Zwanzigerjahre gegangen.

Wie Hosea Che – die Aufzeichnungen nennen ihn respektvoll-rivalisierend, nie ohne Bewunderung: „der Rebell“ – sich gegen die väterliche Autorität auflehnt, die „kritisch-solidarisch“ dagegenhält, so war diese Identifikation mit dem verlorenen und ermordeten jüdisch-dissidenten Erbe zugleich das Hamlet-Projekt einer theatralen Entlarvung der schweigenden, nazistisch verdächtigen Vater-Welt. In der Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ Vorwurf des linken Faschismus zeigt sich für einen Moment das psychodynamische Unterfutter der Apo-Dramaturgie. Der Mordverdacht gegen die Väter blitzt auf: „Der Vorwurf reduzierte sich darauf, dass ich, der ich durch Aktionen die sublime Gewalt zwinge, manifest zu werden, bewusst Studenten ‚verheizen‘ wolle … Habermas will nicht begreifen, dass allein sorgfältige Aktionen Tote, sowohl für die Gegenwart als noch mehr für die Zukunft vermeiden können.“

Eine echte Überraschung ist die in diesem Aufzeichnungsband wohl zum ersten Mal so vollständig dokumentierte und im Zusammenhang sichtbare Unmittelbarkeit und Kontinuität, mit der Rudi Dutschkes protestantische Frömmigkeit in sein antiautoritäres und sozialistisches Engagement ein- und übergegangen ist. Noch Ostern 1964, schon verstrickt in die „Richtlinien und Anschläge“ der situationistischen Münchener Gruppe um Dieter Kunzelmann, schrieb er, der gekreuzigte Christus weise „allen Menschen einen Weg zum Selbst – diese Gewinnung der inneren Freiheit ist für mich allerdings nicht zu trennen von der Gewinnung eines Höchstmaßes an äußerer Freiheit; die gleichermaßen und vielleicht noch mehr erkämpft sein will“. Das protestantische Pfarrhaus und die luthersche „Freiheit eines Christenmenschen“ steht am Anfang des Wegs zu Fanon und Mao und noch 1974, in Notizen über seine stets präsente Angst vor einem Rückfall in die epileptischen Anfälle, die ihn seit seiner Kopfverletzung heimsuchten, steht: „Ich wäre Gott dankbar, du siehst die christliche Befangenheit gerade in Gefahrenmomenten.“

Auch wohl zum ersten Mal im Kontext zugänglich und nachzulesen ist in „Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963–1979“, aber auch Dutschkes politischer Realismus, der sich in seiner kompromisslosen Ablehnung der RAF und der genervt-distanzierten Sicht auf die maoistische Wiederbelebung der stalinistischen Parteikonzepte durch Semler und Horlemann zeigt. Menschlich imponierend ist in all diesen Auseinandersetzungen, dass der emotionale Empathie-Kontakt zu den Protagonisten auch der sekten- und wahnhaften Formen des Agitprop in seinen Aufzeichnungen nie abreißt (mit der für Dutschkes politisches Gespür imponierend bezeichnenden Ausnahme Andreas Baaders, bei dessen Erwähnung wirklich so etwas wie Abscheu spürbar ist). Und nicht zuletzt Dutschkes Patriotismus, sein frühes Nachdenken über die Notwendigkeit und Wünschbarkeit der deutschen Wiedervereinigung finden in diesem Band ihren konkreten Ort in seinem Leben und Denken.

Wir erhalten mit diesem Buch zum ersten Mal ein konkretes Bild dieses noch auf seinen Abwegen menschlich beeindruckenden und als öffentliche Figur in vieler Hinsicht großen Politikers, der inzwischen, so lang nach seinem Tod, zu einem der Gründerväter unserer Republik geworden ist.

Rudi Dutschke: „Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Tagebücher 1963–1979“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 256 Seiten, 22,90 €