peters‘ paradise Wer nicht nervt, kriegt keinen Bären
: Kinderprostitution vs. Melkwettbewerb

In den letzten Tagen konnte man wieder viel über das Leben lernen. In dem Wettbewerbsbeitrag „La vida que te espera“ erfuhr man Wissenswertes über Milchbauern und ihre spannenden Melkwettbewerbe (ein Extrabär für die spektakuläre Kuhdressur!), „Primo amore“ porträtierte einen magersuchtfanatischen Goldschmied italienischer Herkunft, und in „Samaria“ wurden ebenso zarte wie willige Mädchen im Namen einer zutiefst rätselhaften Filmkunst gequält.

Der diesjährigen Berlinale ist es in diesem Sinne nicht nur wunderbar gelungen, so manche Sehgewohnheit auf bislang ungeahnte Weise zu verändern, das wirklich einzigartige Wettbewerbsprogramm verstand es auch, immer wieder interessante Einblicke in das Wesen fremder Kulturen zu vermitteln. Sehr aufschlussreich ist dabei allerdings, dass die zuständigen Filmemacher bei aller Unterschiedlichkeit dazu neigen, ihre Stoffe in Übereinstimmung von Form und Inhalt zu inszenieren. Zum Beispiel gelang es „Primo amore“-Regisseur Matteo Garrone, zermürbende und sinnlose Diätqualen durch zermürbend lange und relativ sinnlose Vespa-Fahrten – von links nach rechts, von rechts nach links und wieder zurück – kongenial zu visualisieren; Kim Ki-Duk wiederum hielt die windschiefe Handlung seines Werks mit einer kopfschrägen Bildmetaphorik in Form; und in Omar Naims „The Final Cut“ fand die hilflose Umsetzung der Grundidee durch hilflos angeklebte Bärte ihre raffinierte maskenbildnerische Entsprechung.

Wollte man im Wettbewerb nun einen Trend ausmachen, so müsste man wohl sagen, dass die Filmschaffenden zum Wohle der künstlerischen Wahrhaftigkeit zusehends dazu übergehen, relativ belanglose Themen auch relativ belanglos zu inszenieren. „Die Nacht singt ihre Lieder“, Romuald Karmakars Film über das nervtötende, spannungsfreie, unzumutbare, handlungsarme, langweilige, stoische und beklagenswert uninteressante Dasein eines nicht mehr ganz so verliebten Paares, ist in dieser Hinsicht ein absolutes Meisterwerk, denn so visionär nervtötend, spannungsfrei, unzumutbar, handlungsarm, langweilig, stoisch und uninteressant wurde bislang selten ein Film erzählt. Schon deshalb ist „Die Nacht singt ihre Lieder“ einer der heißesten Anwärter auf den Bären.

Richard Linklaters „Before Sunset“ mag zwar bislang in der Publikumsgunst recht weit vorne liegen, doch vor den Augen der Fachleute hat der Film natürlich keine Chance. Er wurde nicht nur zu unrealistisch und zu romantisch inszeniert, die Protagonisten sprachen auch in einer Form, die zu klug, zu vernünftig, ja, zu spritzig schien, um höchsten filmkünstlerischen Ansprüchen genügen zu können. Überhaupt fehlte dem Film die gewisse Dosis Zynismus, die ein wirklich gelungenes Werk erst auszeichnet. Auch wurden dringende Probleme wie Magersucht, Diskriminierung, Migration, Depression, Alterssex, Serienmord und Jungfrauenhandel nicht einmal im Ansatz thematisiert. In „Before Sunset“ ging es lediglich um die Möglichkeit einer großen Liebe, die natürlich augenblicklich verblasst, wenn es auch um Melkwettbewerbe („La vida que te espera“) und die positiveren Seiten der Kinderprostitution („Samaria“) gehen könnte.

Richard Linklater darf sich wirklich glücklich schätzen, dass er seinen Film im Wettbewerb überhaupt zeigen durfte. „Before Sunset“ ist zwar großer Film fürs Herz, aber eine Schande für ein politisch so überaus anspruchsvolles Festival wie die Berlinale.

HARALD PETERS