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Archiv-Artikel

Sozialdemokratische Aufrüstung

DAS SCHLAGLOCH    von MATHIAS GREFFRATH

„Industriepolitik, Idealismus und Kreuzzugsrhetorik. Sehr amerikanisch. Nur anders. Gefällt mir“

Schön sind die Gespräche der Männer am Abend. Aber irgendetwas fehlt. Bertolt Brecht

Vorm Kanzleramt wurde es dunkel. Schnee im April. Der Bordeaux war entkorkt. Der Kanzler blickte in die Flocken. „Auf halbem Wege stecken geblieben, werden sie schreiben.“

Der Redenschreiber fragte sich, ob der Kanzler die Presse oder die Geschichtsbücher meinte. „Immerhin“, sagte er, „hast du die größte Antikriegskoalition der Geschichte zustande gebracht. „Ja“, kam es zurück, und nun? Deine Exkollegen gehen mir auf den Senkel: Ich sei unglaubwürdig, wenn ich eine zentrale Rolle der UNO fordere und nicht gleichzeitig die Verurteilung des Kriegs als völkerrechtswidrig. Diese Amateure haben keine Ahnung, was es heißt, sich mit einer Supermacht anzulegen. Ich hatte ja selbst keine bis vor kurzem …“

„Aber irgendetwas …“, sagte der Redenschreiber, goss einen 89er Chateau de Montaigne ein und ging zum Fenster. Die Flocken wurden dichter.

„Ja. Ich weiß“, sagte der Kanzler. Und dann kam etwas, das selbst der Redenschreiber nicht erwartet hatte. „Da ist auf einmal eine ganze Generation politisiert. Und der Gedanke, dass diese Energie verpufft, den find ich nicht schön. Wir brauchen jetzt ein … Projekt. Irgendwas Aufbauendes. Was Außenpolitisches. Innen wird’s doch eher hart jetzt …“

„Und sozialdemokratisch soll es womöglich auch noch sein?“

Der Kanzler drehte sich um. Irgendetwas war anders an seinem Blick. Es sind doch die Geschichtsbücher, dachte der Redenschreiber.

„Also gut. Du hast damit angefangen.“ Der Bundeskanzler blieb mitten im Raum stehen. „Jetzt schreib du mir mal einen Entwurf. Einen realistischen großen Wurf.“

„Bis morgen?“ Der Redenschreiber sah auf die Uhr.

„Nee, jetzt“, sagte der Kanzler. „Ich bin ja auch noch da.“

Zwei Stunden später lag der Entwurf auf dem Tisch. „Lies mal vor“, sagte der Kanzler und griff nach den Korkenzieher. Der Redenschreiber zog die Schultern hoch und begann:

„Wir waren dagegen, weil wir glauben, es geht anders. Unser Nein war richtig, aber – da haben die Amerikaner Recht – es war auch etwas billig. Es hat uns nur Moral und Vernunft gekostet, aber kein Blut und Geld. Deshalb haben gewisse amerikanische Kreise uns verachtet – als naive Idealisten von einem alt gewordenen Kontinent, die nicht wissen, dass man die Welt nur mit zwei Sachen verändern kann: mit Waffen und mit Geld, Geld, Geld. Solange man das nicht einsetzt, ist man irrelevant.“ Der Kanzler seufzte.

„Deutschland wird also seinen Beitrag zur Sicherheit leisten müssen. Und Europa auch. Und deshalb setze ich mich heute für die Aufrüstung Europas ein, für eine radikale Aufrüstung dieses Kontinents zur Verhinderung künftiger Kriege. Radikal sein aber heißt, an die Wurzeln zu gehen. Was aber sind die Wurzeln von Fanatismus und Terror? Elend, Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Die werden wir nur Stück für Stück abschaffen, und bis dahin brauchen wir eine Weltpolizei. Dafür kämpfen wir in der UNO.

Kriege aber sind etwas anderes. Kriege führt man, wenn die eigenen Lebensgrundlagen bedroht sind. Die Lebensgrundlage für unsere Zivilisation ist das Öl – ich muss Ihnen das nicht mehr sagen, dass der Irak irrelevant wäre für die USA, wenn unter seiner Wüste kein Öl läge. Die Kriege der nächsten Jahrzehnte werden also Kriege ums Öl sein. Und: ums Wassser. Stellen wir uns mal vor, demnächst wird das Wasser so verteilt wie heute das Öl. Ein paar reaktionäre Familien besitzen die Quellen, ein paar Multis fördern es, und die armen Südstaaten dieser Welt müssen die Hälfte ihres Sozialprodukts dafür ausgeben. Stellen wir uns mal vor, in zwanzig Jahren fahren die Wassertanker von Kanada in den Golf, und der Markt bestimmt die Preise. Ich möchte nicht, dass das die Zukunft ist.

Und deshalb wird Europa jetzt einen Kreuzzug zur Verhinderung künftiger Kriege beginnen. Einen Zweifrontenkrieg. Ich beantrage eine Aufstockung des Bundeshaushalts um die Höhe unseres Verteidigungsetats, das heißt zunächst um 25 Milliarden. Zum einen für die Finanzierung einer industriellen Revolution, die uns dauerhaft vom Öl unabhängig macht. Da die Ölquellen im Laufe der nächsten 50 Jahre versiegen, ist das schlichte Zukunftsvorsorge. Mit dem Anbau von nachwachsenden Rohstoffen zur Treibstoffgewinnung wird vor allem auf den Ebenen Ostdeutschlands eine neue, blühende Landwirtschaft entstehen. Und wenn Frankreich mitmacht, werden wir die ganze europäische Landwirtschaft auf eine gesunde Basis stellen. Getreide wird zu Treibstoff, und die Agrarsubventionen, die heute die Landwirtschaften der Dritten Welt unterminieren, werden überflüssig. Zweitens: Der Aufbau einer großindustriellen Solarzellenproduktion wird unserer Exportwirtschaft einen starken konjunkturellen Schub geben …

„Konjunktur“, sagte der Kanzler. „Klingt gut. Aber rechnet sich das?“ „Ja, schon...“ – der Redenschreiber nahm einen Schluck und grinste. „Ist allerdings purer Stamokap. Wie im Übrigen am Beginn jeder neuen Epoche im Kapitalismus.“

„Ist mir jetzt zu abstrakt.“

„Da ist eine ganze Generation politisiert – dass diese Energie verpufft, find ich nicht schön“

„Also gut, es ist eine Kombination von Marshallplan, Exportpolitik und sanfter Erziehung. Wir bringen Wasserentsalzungstechnik und Solarenergie in den Süden. Europa – oder eben wir – muss das mit langfristigen, ich denke an 50 Jahre, zinsfreien Krediten vorfinanzieren. Aber wir arbeiten nur mit Ländern zusammen, die ihre Demokratie in Ordnung bringen. Wir werden hier unabhängig vom Öl und lösen dort den unseligen Zusammenhang von Öl, Diktatur und Krieg. Wir fördern unseren Export und unser Ansehen und entschärfen die Konfliktherde der nahen Zukunft …“

Der Kanzler griff zum Manuskript und überflog die letzten Seiten. „Das hier gefällt mir“, sagte er, „das wird die ärgern: Deutschland ist so auf dem Weg zu einem spezifisch europäischen Internationalismus, der zugleich die Demokratie und den Wohlstand in der Welt hebt und seinen langfristigen nationalen Interessen dient.“

„Wörtlich abgeschrieben aus der neuen Sicherheitdoktrin der USA“, grinste der Redenschreiber durch den dunklen Raum.

„Nee, wirklich, gefällt mir gut. Industriepolitik, Idealismus und Kreuzzugsrhetorik. Sehr amerikanisch. Nur anders. Aber kriegen wir das durch? Schaffen wir das?“

„Aufbau Ost kostet uns sechmal so viel pro Jahr“, entgegnete der Redenschreiber. „Ich finde, du solltest es ‚Bündnis für Frieden, Innovation und Konjunktur‘ nennen. Mit Frieden kriegst du die Gewerkschaften …“

„Und mit Innovation Rogowski.“ Der Kanzler blickte aus dem Fenster. Durch den Schnee funkelte das Sony Center. „Zehn Milliarden hier, zehn Milliarden da, ein Punkt Mehrwertsteuer … Ruf doch mal den Hans an. Soll rüberkommen. Aber sag ihm, wir hätten nur Wein, wenn er was anderes will, soll er was mitbringen. Ich denke, wir versuchen das. Wenn schon scheitern, dann groß. Ich komm gleich wieder.“ Und beim Rausgehen murmelte er: „Radikal sein heißt an die Wurzel gehen. Mmh. An die industrielle Basis. Ist doch mein Reden: Industriepolitik ist die einzige Realpolitik.“