: Die nächsten sechs Wochen sind entscheidend
INTERVIEW RALF SOTSCHECK
taz: Herr Ministerpräsident, werden die EU-Bürger bei der Europawahl im Juni auch über die erste Verfassung der Union abstimmen können?
Bertie Ahern: Wir bemühen uns, die Verfassungsfrage während unserer Präsidentschaft, also bis Ende Juni, zu lösen. Meine Gespräche mit den anderen Regierungschefs drehen sich zwar nicht ausschließlich um dieses Thema. Doch wir arbeiten darauf hin, dass wir im Frühjahr Lösungen und Kompromisse bei den vielen Punkten vorlegen können, die noch offen sind. Wir versuchen momentan, einen Dialog in Gang zu bringen. Die kommenden Wochen sind entscheidend, weil es zu einer Reihe von Treffen zwischen Kollegen kommen wird, die unterschiedlicher Meinung sind und Probleme miteinander haben.
Vielleicht könnten Sie noch ein bisschen mehr über die Verhandlungen verraten. Sind Sie eher optimistisch?
In diesem Stadium bin ich weder optimistisch noch pessimistisch. In den nächsten sechs Wochen kommt es darauf an, die bestehenden Probleme zu lösen. Das wird nicht einfach. Aber wir haben schon ein paar Fortschritte gemacht. Die Verfassung ist so gut, es steckt so viel gute Arbeit darin, da müssen wir einfach zu einer Einigung kommen.
Wie könnte denn ein Kompromiss aussehen?
Ich wusste von Anfang an, dass die Frage, mit welchem Modus im Ministerrat entschieden wird, ein grundlegendes Thema für Deutschland ist. Ich glaube, Bundeskanzler Schröder hat die Argumente auf seiner Seite, das von ihm geforderte Prinzip der „doppelten Mehrheit“ ist ein vernünftiger Ansatz. Wir müssen also einen Mechanismus durchsetzen, der von der doppelten Mehrheit ausgeht, aber auch die Bedenken berücksichtigt, die Polen und Spanien dagegen haben.
Warum geben Sie den Abstimmungsmechanismus, wie ihn der Nizza-Vertrag festschreibt, so einfach auf? Schließlich hat die irische Bevölkerung dem Vertrag in einem Referendum zugestimmt.
Wenn wir wollen, dass der Nizza-Vertrag von der Verfassung abgelöst wird, brauchen wir ein neues Referendum. Natürlich müssen wir der Bevölkerung erklären, warum wir diese Veränderung brauchen. Der Grund ist einfach: Wir wussten immer, dass es in einer EU mit 25 Mitgliedern viel schwieriger ist, Entscheidungen zu fällen, als in einer EU mit 15 Staaten. Wir benötigen ein effektives Abstimmungssystem. Die doppelte Mehrheit ist ein System für ein erweitertes Europa.
Linke Kritiker werfen der EU vor, dass sie die Verfassung auch deshalb will, weil mit ihr die Möglichkeiten für Privatisierungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Kultur ausgeweitet werden.
Bei der Verfassung geht es darum festzuschreiben, für welche Politikbereiche die EU künftig zuständig sein soll. Sie ist besser formuliert als die bisherigen Verträge, und daher ist sie für die Bürger verständlicher. Außerdem enthält sie die wichtige Charta für Grundrechte. Dafür haben sich die Gewerkschaften stark gemacht. Ich glaube also, dass die Schutzmechanismen durchaus vorhanden sind. Im Übrigen werden die nationalen Regierungen weiterhin über Privatisierungen entscheiden.
Welche Folgen hätte es, wenn die Sache mit der Verfassung schief geht?
Das würde uns eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Es würde Verwirrung auslösen, weil wir kein funktionierendes System für die Zukunft hätten. Wir müssten mit den Arrangements von Nizza weitermachen. Am Ende der Verhandlungen von Nizza stimmten aber alle darin überein, dass dies nur eine Zwischenlösung war. Was wir in der EU machen, geschieht auf der Grundlage von Verträgen. Daher brauchen wir den Verfassungsvertrag, der leicht verständlich ist und die Zuständigkeiten festlegt. Wir stehen schließlich vor der größten Erweiterung in der Geschichte der EU.
Nach dem Desaster von Brüssel im vorigen Jahr haben Deutschland und Frankreich die Idee eines Kerneuropa wiederentdeckt. Die beiden Länder marschieren bei der Integration voran, der Rest kann zusehen, ob er mitkommt.
Solange das im Rahmen bestehender Verträge geschieht, habe ich keine Probleme damit. Dieses System ist ja offen für alle, sie können beitreten, wann immer sie dazu bereit sind. Es gibt bereits Beispiele dafür, das Grenzregime von Schengen oder die Währungsunion. Ich bin aber strikt gegen ein zweigleisiges Europa außerhalb der existierenden Verträge. Das würde zu einer Spaltung der EU führen. Das müssen wir unter allen Umständen verhindern.
In letzter Zeit scheinen nationale Interessen immer häufiger Priorität vor europäischen Interessen haben.
Es ist doch normal, dass die Regierungen zunächst auf ihr eigenes Parlament und auf ihre eigene Öffentlichkeit schauen. Wenn wir aber wollen, dass die EU funktioniert, müssen wir Kompromisse eingehen. Und dazu waren wir bisher immer in der Lage.
In diesen Tagen beginnen die Verhandlungen über die nächste EU-Haushaltsperiode. Die Nettozahler, zu denen Irland ab 2008 auch gehören wird, wollen das Budget auf dem heutigen Stand einfrieren. Das würde Kürzungen bei den Strukturfonds nach sich ziehen, also weniger Geld für die Beitrittsländer bedeuten.
Die Kommission, die den Erweiterungsprozess ausgehandelt hat, weiß am besten, welche Ressourcen nötig sind, um der Erweiterung zum Erfolg zu verhelfen. Natürlich ist die Finanzierung der Gemeinschaft ein Riesenthema, nicht zuletzt für die Nettozahler, zu denen wir bald gehören werden. Die irische Präsidentschaft muss die Finanzverhandlungen strukturieren und einen Zeitplan festlegen, damit der gesetzgeberische Prozess im Juli beginnen kann. Wir müssen also schleunigst anfangen.
Was ist mit den Agrarsubventionen? Sollte man nicht über weitere Kürzungen nachdenken, auch wenn Berlin und Paris das nicht wollen?
Nach dem Agrarkompromiss 2002 stand für die EU-Regierungen fest, dass wir dieses Thema zumindest bis 2011, wenn nicht bis 2013 erledigt haben. Damit waren meiner Ansicht nach alle sehr zufrieden. Ich habe bisher von niemandem etwas anderes gehört.
Sind Sie für eine EU-Steuer?
Nein. Es gab ausführliche Debatten darüber, aber ich bin für das bestehende System. Ich finde, das hat bisher gut funktioniert, alle verstehen es. Was immer in der Zukunft geschehen soll – bei der anstehenden Runde bin für das jetzige System.
Irland und Großbritannien sind die einzigen EU-Länder, die den Menschen aus den Beitrittsländern bei der Suche nach einem Arbeitsplatz keine Beschränkungen auferlegen. Warum diese Großzügigkeit?
Ich finde, dass wir anstreben sollten, die Erweiterung soweit wie möglich mit dem Geist zu erfüllen, der in diesem Erweiterungsgedanken steckt. Wenn es allerdings einen riesigen Zustrom wegen der Restriktionen der anderen Länder gibt, müssen wir unsere Position vielleicht überdenken. Das würden wir gern vermeiden, und wir rechnen eigentlich auch nicht damit.