: Die entscheidenden zwei Takte
Bei dem Prozess geht es um eine grundlegende kulturelle Frage: Wem gehört der künstlerische Einfluss einer Band? Der Band oder den Beeinflussten?
„Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, das einzig Vernünftige zu tun, nämlich den Hörer in die Hand zu nehmen und mit den Menschen zu sprechen, ihnen zu erklären, dass ich sie ganz bestimmt nicht bestehlen wollte, sondern dass das, was ich da mache, Kunst ist, und ich übrigens ziemlicher Fan bin“, schrieb Moses Pelham über die Entstehung des Stücks „Mit Mir“ auf seiner Homepage. Im Jahr 1999 produzierte er es für Sabrina Setlur und sampelte dafür zwei Takte aus Kraftwerks Stück „Metall auf Metall“, um sie dann in die Rhythmusspur zu integrieren. Die Homepage ist mittlerweile abgeschaltet, und prozessstrategisch dürften Pelham seine Worte heute mächtig ärgern – denn so gab er zu, Kraftwerk tatsächlich gesampelt zu haben. Hätte er sich ein paar Minuten genommen, um die zwei Takte per Hand nachzuprogrammieren, wäre der Streitwert, um den heute verhandelt wird, deutlich geringer ausgefallen: Dann würde es nur um die Rechte an der Komposition „Metall auf Metall“ gehen. Nicht um Kraftwerk als Interpreten und Inhaber ihrer Plattenfirma, wo ihr Stück herauskam.
Abgesehen davon umreißt Pelham mit seinen Worten ziemlich genau, worum es bei diesem Prozess geht. Es geht um eine kulturelle Frage: Wem gehört der künstlerische Einfluss einer Band? Der Band oder den Beeinflussten? Pelham sagt, er habe die Kraftwerk-Takte als Hommage an die Gruppe verwendet und hält das für legitimen künstlerischen Ausdruck. Kraftwerk sagen, das sei keine Hommage, sondern Diebstahl. Hier geht es also um grundsätzliche Fragen der künstlerischen Produktion: Darf man künstlerisches Material einfach so neu zusammenfügen? Ändert eine Collage das Collagierte?
Coverversionen gab es im Pop schon immer – ein Künstler spielt den Song eines anderen nach. Die Digitalisierung der Musik und der Aufstieg des Samplers, eines Aufnahmegeräts, mit dem sich Klangschnipsel („Samples“) aufnehmen und digital verändern lassen, haben den Pop aber gründlich verändert. Nun bauen Künstler die Musik anderer Künstler direkt in ihre Songs ein. Und je weiter sich die globalen Musikarchive geöffnet haben, desto wichtiger ist diese Technik geworden.
Dass Pelham ein Kraftwerk-Fan ist (oder war), entspricht sicher der Wahrheit. Er kommt aus der frühen Frankfurter Hiphop-Szene. Wie überall, wo in den frühen Achtzigern gebreakt wurde, dürfte Kraftwerk auch dort eine nicht zu unterschätzende Größe gewesen sein. Tatsächlich gibt es kaum eine Band, die so häufig gesampelt worden ist wie die Düsseldorfer Elektronikpioniere. Sowohl Hiphop als auch House und Techno, die wichtigsten musikalischen Genres der letzten zwei Jahrzehnte, hätten sich ohne Kraftwerk vollkommen anders entwickelt. Zwei der begründenden Platten dieser Genres basieren fast ausschließlich auf Kraftwerk-Samples. Da ist zum einen Afrika Bambaataas „Planet Rock“, eine der Gründungsplatten des Hiphop von 1981. „Planet Rock“ ist nichts weiter als die kunstvolle Verschmelzung der Rhythmusspur von Kraftwerks „Numbers“ mit der Melodie von „Trans-Europa-Express“. Man kann sie bis heute kaufen – einen Nachweis der Samples trägt sie nicht. Genauso wenig wie bei „Clear“ von Cybotron von 1984, eine der ersten Technoplatten. Sie basiert auf Samples der Kraftwerkstücke „Spiegelsaal“ und „Trans-Europa-Express“. Genau wie die ersten Hiphopper waren auch die ersten Technoproduzenten fasziniert von diesen fremden europäischen Klängen, die sich für sie anhörten, als seien sie Übertragungen aus der Zukunft.
Dass Kraftwerk (zusammen mit James Brown) die wahrscheinlich einflussreichste Band der vergangenen dreißig Jahre sind und heute einen gottgleichen Status genießen, liegt nicht nur an ihren ästhetischen Innovationen, sondern auch daran, dass sie immer wieder gesampelt wurden – legal oder illegal. Hunderte von Stücken basieren auf Kraftwerk-Samples: von berühmten Künstlern wie Madonna, Jay-Z, Missy Elliott oder Beck bis zu unbekannten wie DJ Assault oder The Egyptian Lover. Und es ist kein Ende abzusehen: Das Mash-up-Fieber, das vor einigen Jahren losbrach und zu dutzenden von Stücken führte, die zwei Songs übereinander legten, begann wieder mit einer ungeklärten Kraftwerk-Verwurstung: Girls On Tops „I Wanna Dance With Numbers“, eine Verschmelzung von Kraftwerks „Numbers“ mit Whitney Houstons „I Wanna Dance With Somebody“.
Ohne Kraftwerk das Recht an ihrer Musik absprechen zu wollen – es ist die Ironie dieses Prozesses, dass die Band heute nicht da wäre, wo sie ist, wenn ihre Musik nicht seit fünfundzwanzig Jahren immer wieder durch den legalen Graubereich geistern würde, indem das Alte in Neues verwandelt wird. TOBIAS RAPP