: Die übelsten Aborte der Welt
Auf den Spuren von Tintoretto und Thomas Bernhard in einem Wiener Museum
Ich war im Kunsthistorischen Museum zu Wien, und da ich nun schon mal da war, suchte ich den so genannten Bordone-Saal auf, in dem Tintorettos „Weißbärtiger Mann“ hängt, von dem in Thomas Bernhards als „Komödie“ tituliertem Roman „Alte Meister“ sehr oft die Rede ist.
Auf dem Weg zum Bordone-Saal war nicht viel zu sehen, was mich zum Lachen bringen konnte, nicht einmal die ehrbaren venezianischen Vedutenmaler, geschweige denn diese ganze humorfreie habsburgerische Himmel- und Höllenkunst. Eine Ausnahme machte eine wunderschöne junge Frau, die, auf einer der grauen, samtbezogenen Bänke sitzend, bei dem Versuch, den Museumsführerfaltplan zu handhaben, dicht vor ihren Augen wider Willen einen komplett missglückten Papierhut zusammenbastelte und sich somit den Blick auf die gar nicht so bewunderungswürdigen Tizians verdeckte.
Ich suchte also den Bordone-Saal auf, weil ich es auch einmal den Arno-Schmidt-Addicts gleichtun und die Ortsschilderungen in den Romanen mit der Wirklichkeit vergleichen wollte. Dort, im Bordone-Saal, sitzt ja Thomas Bernhards Hauptfigur, der Musikwissenschaftler Reger, seit über 36 Jahren jeden zweiten Tag stundenlang auf der grauen, samtbezogenen Sitzbank gegenüber von Tintorettos „Weißbärtigem Mann“ herum, um nachzudenken, um zu lesen, um Tintorettos Gemälde zu überprüfen und um das Verhältnis zwischen Mensch und Welt zu klären.
Ich hatte die „Alten Meister“ vor einigen Jahren gelesen, und nun musste ich feststellen, dass der „Weißbärtige Mann“, eines der wenigen nicht mythologisch aufgeladenen Bilder im Kunsthistorischen Museum und tatsächlich ein sehr gutes Bild, wie ich finde, nicht im Bordone-, sondern im Bassano-Saal daneben hängt. Hatte Bernhard geschummelt? Hatte sich die Wirklichkeit verändert? Und war das alles nicht egal?
Ich verließ das Museum wieder, und weil diese allenthalben hergezeigte alte Kultur im Wiener Ersten Bezirk auf die Dauer doch zur Aufdringlichkeit, zur ätherischen Gemeinheit wird, kaufte ich zwecks kultureller Gegenkur die „Alten Meister“ und schlug irgendeine Seite auf, es war die Seite 162. „Wien hat keine Toilettenkultur, sagte er, Wien ist ein einziger Toilettenskandal, selbst in den berühmtesten Hotels der Stadt befinden sich skandalöse Toiletten“, las ich, „die scheußlichsten Aborte finden Sie in Wien, so scheußlich wie in keiner anderen Stadt, wenn Sie Wasser ablassen müssen, erleben Sie Ihr Wunder, sagte er. Wien ist ganz oberflächlich wegen seiner Oper berühmt, aber tatsächlich gefürchtet und verabscheut wegen seiner skandalösen Toiletten. Die Wiener, ja die Österreicher insgesamt, haben keine Toilettenkultur, auf der ganzen Welt finden sie keine derartig verschmutzten und übelriechenden Aborte, sagte Reger. In Wien auf den Abort gehen zu müssen ist meistens eine Katastrophe, man macht sich in ihnen, wenn man kein Akrobat ist, schmutzig, und der Gestank in ihnen ist so groß, daß er sich oft Wochen in den Kleidern festsetzt.“
Ich fand das, wie meist bei Bernhard, ziemlich komisch, und ich schlug das Buch wieder zu. Das reichte. Einmal pro Jahr eine Seite Bernhard lesen genügt, um Thomas Bernhard Genüge zu leisten. Denn Bernhard selbst hat in den „Alten Meistern“ für eine solche Lektürezurückhaltung eine Begründung geliefert, die uns vielleicht endlich – jenseits von theoretischer und praktischer Literaturwissenschaft, die ja eh nichts herausbekommt – das Geheimnis eines großkomischen Oeuvres lüftet, das nur dann wirklich komisch ist, wenn man über die Tausenden von letztlich so lustlos wie unlustig sich voranwälzenden und hypertroph rhetorisch röhrenden Seiten hinwegblättert und nur mal eine Seite – oder eine zweite Seite – herauspickt, zum Beispiel die Seite 38 f.: „Zu Hause lese ich schon seit Jahren kein Buch mehr, hier im Bordone-Saal habe ich schon Hunderte Bücher gelesen, aber das heißt nicht, daß ich alle diese Bücher im Bordone-Saal ausgelesen hätte, ich habe niemals in meinem Leben ein einziges Buch ausgelesen, meine Art zu lesen ist die eines hochgradig talentierten Umblätterers …, ich habe in meinem Leben millionenmal mehr umgeblättert als gelesen, aber am Umblättern immer wenigstens so viel Freude und tatsächliche Geisteslust gehabt wie am Lesen. Es ist doch besser, wir lesen alles in allem nur drei Seiten eines Vierhundertseitenbuches tausendmal gründlicher als der normale Leser, der alles, aber nicht eine einzige Seite gründlich liest, sagte er.“
Und deshalb sage ich hier hoch und heilig, dass auf meiner dritten Seite der „Alten Meister“ etwas steht, das erwartungs- und naturgemäß haargenau mit der Wirklichkeit übereinstimmt: „Wenn Sie mit einem Wiener in seine Wohnung gehen, bleibt Ihnen meistens vor Schmutz der Verstand stehen.“ JÜRGEN ROTH