: Nach Saddam
Deutschland und die EU haben ein starkes Interesse an regionaler Stabilität im Nahen und Mittleren Osten. Schon deshalb müssen sie den Irakern nach Kriegsende helfen
Die Folgen, die der amerikanische Sieg und der durch ihn erzwungene Regimewechsel im Irak für das regionale System haben werden, sind im einzelnen nicht absehbar. Sie sind nicht zuletzt von der Fähigkeit und Bereitschaft internationaler Akteure abhängig, darunter auch der EU und ihrer Mitgliedstaaten, ihre Verantwortung wahrzunehmen und sich gemeinsam mit regionalen Akteuren für den Aufbau einer haltbaren Nachkriegsordnung einzusetzen. Dazu gehören der wirtschaftliche und politische Wiederaufbau des Irak, seine Reintegration in das regionale Umfeld, die unterstützende Begleitung des politischen Wandels in den arabischen Staaten – und natürlich die Wiederbelebung des arabisch-israelischen Friedensprozesses.
Die Perspektive eines „demokratischen Dominoeffekts“ – also die Vorstellung, dass der amerikanische Sieg über das Regime in Bagdad quasi mechanisch zur Demokratisierung der Region führen und „eine neue Phase für Frieden im Nahen Osten“ einleiten wird (George W. Bush) – reflektiert eher Washingtoner Wunschdenken als eine genaue Kenntnis regionaler Zusammenhänge. Die regionalen Dynamiken nach dem Krieg werden tatsächlich zu einem Teil von den Nachkriegsentwicklungen im Irak abhängen. Besonders wichtig wird sein, ob das politische System, das an die Stelle des Baath-Regimes tritt, gleichzeitig stabil und partizipativ genug ist, um von den Irakern als ihr eigenes betrachtet zu werden.
Entscheidend ist auch, ob die USA und die internationale Gemeinschaft genügend staying power beweisen werden, wenn sich die Nachkriegsschwierigkeiten – von den Kriegsplanern bewusst unterschätzt – in ihrem ganzen Umfang zeigen, wenn die Nachkriegszeit also länger dauert als geplant und amerikanisches oder anderes westliches Personal zum Opfer von Widerstands- oder Terroraktionen wird. Sollten die USA der Verantwortung entfliehen, die sie nach der Zerstörung der existierenden Regimestrukturen tragen, und das Land entweder dem Bürgerkrieg oder einem neuen autoritären Regime überlassen, würde dies regional in die Hände reaktionärer, antidemokratischer und antiwestlicher Kräfte spielen. Ähnliches gälte, wenn die irakischen Regierungsgeschäfte nicht schnell wieder den Irakern selbst übergeben würden oder ein amerikanisches Besatzungsregime durch sein konkretes Verhalten dem Eindruck Vorschub leisten würde, es gehe Washington doch nur um die Kontrolle irakischer Ölvorkommen.
Die Nachkriegsphase wird in jedem Fall auch ein Test für die Fähigkeit europäischer und amerikanischer Akteure sein, die Differenzen über den Krieg zu überwinden und nicht etwa auf dem Rücken der Kriegsopfer auszutragen. Deutschland und die Europäische Union als Ganzes haben ein starkes Eigeninteresse an regionaler Stabilität im Nahen und Mittleren Osten. Sie werden sich schon deshalb nicht der Aufgabe entziehen können, dem besiegten Irak wieder auf die Beine zu helfen. Dies impliziert nicht nur technische, sondern auch finanzielle Hilfe, also zusätzliche Haushaltsbelastungen, die weder bei amerikanischen noch bei europäischen Steuerzahlern gut ankommen werden. Es wäre allerdings unverantwortlich, die Illusion zu nähren, dass der Irak seinen Wiederaufbau aus eigenen Mitteln finanzieren könnte.
Deutschland und die EU sollten dafür eintreten, dass ein Mandat der Vereinten Nationen für den Wiederaufbau nicht ausschließlich auf humanitäre Aufgaben beschränkt bleibt, sondern auch die politische Systembildung unterstützt. Dies würde auf die Einsetzung eines Hohen Repräsentanten durch den Sicherheitsrat hinauslaufen, der die Aktivitäten internationaler Agenturen koordiniert, eine irakische Zivilregierung einsetzt, einen konstitutionellen Prozess einleitet und überwacht. Er könnte dann auch den irakischen Regierungsorganen bis zum Abschluss dieses Prozesses Weisungen erteilen.
Die USA werden ihre Truppen im Irak keinem UN-Befehl unterstellen. Doch werden sie sich rasch in eine – oder in den Kern einer – peace keeping force verwandeln müssen, die so lange im Land bleiben sollte, wie das zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse nötig ist. Europäische und deutsche Akteure können in vielen Bereichen sinnvoll Hilfe leisten. Dazu gehört die Demobilisierung und Reintegration irakischer Soldaten, der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen oder des Polizeiwesens. Deutschland könnte etwa anbieten, eine internationale Arbeitsgruppe zu koordinieren, die sich mit dem Stand irakischer Schulden befasst, und eine Schuldenregelung vorbereiten, ohne die der Irak keine frischen Kredite erwarten kann.
Mittelfristig werden der Aufbau regionaler Sicherheitsstrukturen und regionale Rüstungskontrollbemühungen wichtiger sein als die fortgesetzte kontrollierte Abrüstung des Irak. Eine Wiederaufnahme der aus dem Nahost-Friedensprozess hervorgegangenen multilateralen Arms Control and Regional Security-Verhandlungen ist sinnvoll, wenn auch der Irak, Iran und Syrien daran beteiligt werden. Kurzfristig ist dies allerdings nicht zu erwarten: Die Gespräche sind in der Vergangenheit zu eng an Fortschritte im Friedensprozess geknüpft worden. Die EU könnte deshalb zunächst für die Einsetzung eines regionalen runden Tischs zu Sicherheits- und Rüstungskontrollfragen eintreten, der die Staaten des Golfkooperationsrats, Iran, Irak und die schon im Nahost-Quartett kooperierenden internationalen Akteure zusammenbringt.
Die EU wird mit Blick auf die arabische Welt eine eigene Perspektive politischen Wandels entwickeln müssen, wie sie ansatzweise (unter Programmen wie MEDA-Democracy) bereits für den Mittelmeerraum existiert. Dabei kann es sowohl darum gehen, partizipatorische Reformvorhaben zu unterstützen, wie sie etwa in Bahrein sichtbar werden, als auch zivilgesellschaftliche Akteure zu ermutigen.
Die Hoffnung auf eine plötzliche, vollständige und haltbare Demokratisierung der Golfstaaten oder des Irak ist allerdings unrealistisch: Demokratisierung ist, wie auch das iranische Beispiel zeigt, ein langsamer und von Widersprüchen und Rückschlägen nicht freier Prozess. Im Irak wird es vorzugsweise um die Schaffung von Rechtsstaatlichkeit und um eine Verankerung föderaler Elemente gehen, damit alle Bevölkerungsgruppen beteiligt werden.
Letztlich gilt, dass sowohl die Chancen politischer Liberalisierung in der arabischen Welt wie auch die Glaubwürdigkeit westlicher Politik davon abhängen, ob es den USA, der EU und den Vereinten Nationen gelingt, den nahöstlichen Friedensprozess wiederzubeleben und zum Abschluss zu bringen. Der arabisch- israelische Konflikt nährt nicht nur religiös begründeten Extremismus und Terrorismus, er trägt auch nach wie vor zur Legitimierung autoritärer Herrschaft bei, fördert Rüstungswettläufe aller Art und hält potenziell Investoren davon ab, sich in der Region zu engagieren.
VOLKER PERTHES