Angst vor ansteckender Wut

„Das Vertrauen in Chinas Regierung ist verloren. Sie wirkt selbst hilflos“

aus Peking GEORG BLUME

Vor ein paar Tagen ließ sich mit den Angestellten des Zentralkrankenhauses der bewaffneten Polizei im Pekinger Stadtteil Sanlitun noch reden. Wang Xiaomei, die Rezeptionistin in grüner Uniform, trug einen Atemschutz und sprach von „der schrecklichen Krankheit“, die sich in Peking ausbreite. Tang Xu, der erfahrene leitende Arzt für Gesundheitsuntersuchungen, erklärte, man berichte in Chinas Medien nicht gern über Epidemien, weil das zu Unruhen führen könnte. Und Zhang Feng, ein Verwaltungsangestellter des Hospitals, sagte: „Es ist alles nicht so schlimm, wie darüber geredet wird.“

Heute aber kann kein Fremder mehr mit Wang, Tang und Zhang sprechen. Seit Dienstag stehen alle Angestellten und Patienten des Zentralkrankenhauses in Sanlitun unter Quarantäne, vermummte Wächter halten das Gittertor 24 Stunden am Tag versperrt. Niemand darf mehr ein und aus gehen. „Mutter soll nicht vorbeikommen“, ruft ein Patient im Büroanzug seiner Tochter über die Krankenhausmauer zu. Diese berichtet, dass ihr Vater diese Woche entlassen werden sollte. Jetzt müsse er mit vier Wochen Isolation rechnen. Eine offizielle Begründung hätte es bislang nicht gegeben. „Aber jeder weiß natürlich, warum“, sagt die Teenagerin.

Die harmlose klingende Auskunft des Mädchens beschreibt ein noch vor einer Woche ungeahntes, sich von Tag zu Tag zuspitzendes Drama in der chinesischen Hauptstadt. Eigentlich geht es dabei nur um „Feidian“, jene neue, hochansteckende Lungenentzündung, der man in lateinischen Buchstaben den Namen SARS gab (Schweres akutes respiratives Syndrom). In Wirklichkeit aber hat der Ausbruch der in etwa 4 Prozent der Fälle tödlichen Krankheit in Peking schon heute zur Entfremdung zwischen der Hauptstadtbevölkerung und der Zentralregierung geführt, wie sie seit dem historischen Frühling der Studentenrevolte 1989 nicht mehr zu beobachten war.

Sieht man von den bekannten Korruptionsfällen ab, waren die Pekinger mit ihrer Regierung in den letzten Jahren nicht unzufrieden. Eine neue Autobahn nach der anderen legte sich um die Stadt. Wo neue Trabantenviertel entstanden, waren sie im Vergleich zu den alten Hofsiedlungen sauber und mit modernen Sanitäranlagen ausgestattet. Hinzu kam die Aussicht auf die Olympischen Spiele im Jahr 2008. Nicht zuletzt erhielt man Zeitungen ins Haus, die trotz ihrer unveränderten staatlichen Anbindung zunehmend unabhängig informierten.

All dieser Fortschritt ist durch SARS plötzlich in Frage gestellt. „Das Leben ist normal“ lautet eine in Anlehnung an einen Ausspruch des Gesundheitsministers vielfältig variierte Titelzeile der Pekinger Zeitungen. Sie ist das Signal dafür, dass die Medien wieder gleichgeschaltet sind und im Übrigen nichts mehr in der Hauptstadt mit normalen Dingen zugeht.

Die Regierungsorgane befehlen, man möge sich öfter die Hände waschen. Doch von einer Gefahr für den Bürger ist keine Rede. Im Gegenteil: „Die Epidemie ist unter Kontrolle“, heißt es immer wieder in den Medien. Bis gestern Morgen meldet das Gesundheitsministerium 19 SARS-Fälle in der Hauptstadt, dann erhöht es die Zahl auf 22. Doch inzwischen glaubt fast jeder Pekinger, ebenso viele Fälle selbst zählen zu können.

Da ist Liu Feng, die einfache Waschfrau vom vornehmen Kempinski-Hotel, die mit ihrer Schwester eine kleine Wohung gegenüber dem Sanlituner-Zentralkrankenhaus bewohnt. Schaut Liu in den letzten Tagen aus dem Fenster, sieht sie Menschen „wie Astronauten“ in Schutzanzügen durch das Gittertor eilen. Spricht sie nebenan mit den Lehrern der Grundschule, erfährt sie von den Überlegungen des Direktors, die Schule zu schließen, weil das Kind eines Doktors an SARS erkrankt sei. Die Klasse des Kindes habe bereits schulfrei. Geht die Waschfrau dann zur Arbeit, berichten die Kolleginnen vom Arzt der Hotelkrankenstation, der sich ebenfalls mit SARS angesteckt habe. Nicht anders sei es einem Angestellten des Paulaner-Restaurants im Kempinski ergangen. Man kann sich ausmalen, was Frau Lui denkt, wenn sie abends die Fernsehnachrichten sieht. Sie fühlt sich schlicht betrogen.

Wie ihr geht es den meisten Pekingern. Vor Tagen noch sahen sie in SARS ein fernes Problem, das für lustige Bilder aus Hongkong sorgte. Die zeigten, wie sich die Menschen weiße Lappen vors Gesicht banden. Die Reaktionen schrieb man dem heftigen Temperament der Südchinesen zu. Doch obwohl die meisten Hauptstädter bis heute zeigen wollen, dass sie nicht feige sind, und deshalb den Atemschutz weglassen: Ihre gewöhnliche nordchinesische Ruhe haben sie verloren.

„Komm heute nicht bei uns einkaufen“, warnt eine Verkäuferin des populären Landao-Kaufhauses im Osten Pekings ihre Freundin per Telefon. „In der ersten und sechsten Etage haben sich bei uns Angestellte mit SARS angesteckt.“ So brennen in der Hauptstadt die Leitungen heiß. Zum ersten Mal erlebt Peking eine akute Krisensituation in Zeiten mobiler Kommunikation. Wo die Medien nicht mehr informieren, will plötzlich jeder jeden unterrichten. Die Regierung ist stolz darauf, dass China heute das Land mit der größten Zahl von Handybenutzern ist. Doch nun nutzen die Bürger ihr Mobiltelefon, um unterdrückte Nachrichten zu verbreiten: dass die SARS-Gefahr jeden betrifft und dass es auf sie keine einfachen Antworten gibt. Karl-Eugen Feifel, Asienchef der Windenergiefirma Nordex, schaut seinen 15 chinesischen Mitarbeitern ein paar Tage zu, wie sie sich über SARS per SMS und E-Mail mit Freunden austauschen. Dann verbietet er jede private Nachricht zum Thema. Denn seine Leute haben bald nichts mehr anderes im Kopf.

Die Theaterregisseurin Cao Kefei beschreibt ihre Erfahrung so: „Während die Regierung sagt, dass alles unter Kontrolle sei und die Zahl der SARS-Fälle nicht zunehme, erfahren wir täglich von neuen Ansteckungen.“ Cao lebt in einer typischen Pekinger Neubausiedlung. Am Donnerstag werden die Wohnblöcke von einer in Auge und Nase stechenden Wolke von Desinfektionsmitteln umhüllt. Das ist vorerst die einzig aktive, in die Bevölkerung reichende Antwort der Behörden: Alles desinfizieren. Angeblich werden auch alle 63.000 Taxis der Hauptstadt sterilisiert. Doch Entlastung schafft das nicht.

Chinesen verbreiten die unterdrückten Nachrichten per Mobiltelefon

„Das Vertrauen in die Regierung ist verloren.“ Für Cao liegt hier das Hauptproblem. „Es gibt nirgendwo eine klare Einschätzung der Lage“, analysiert die Theaterfrau. „Die Regierungsleute wirken im Fernsehen selbst hilf- und fassungslos.“

So erlebt es auch Wolfgang Preiser, der Frankfurter Virologe, der seit zehn Tagen im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor Ort nach den Ursachen der SARS-Epidemie sucht. Gerade hat er die südchinesische Provinz Guangdong besucht, wo bis heute über die Hälfte aller weltweit vermeldeten SARS-Fälle aufgetreten sind. Dort ist der deutsche Arzt angenehm überrascht von den medizinischen Vorkehrungen. Seine WHO-Delegation schlägt sogar vor, Guangdong weltweit als Modell für die SARS-Bekämpfung zu betrachten. Doch nichts dergleichen lässt sich über Peking sagen. „Hier ist einiges aus dem Lot“, untertreibt Preiser. „Die Hauptstadt hat die ganzen Hausaufgaben noch zu machen.“ Zugleich bemerkt der Deutsche bei Gesprächen mit der stellvertretenden Regierungschefin Wu Yi und anderen Regierungmitgliedern: „Die Leute stehen unter einem unglaublichen Druck.“

Der Druck aber hat wenig mit den objektiven Gefahren der Epidemie zu tun. Sie sind nach allgemeiner Auffassung gering. Selbst wenn es in China zehnmal so viel SARS-Fälle gäbe wie heute offiziell gemeldet, also 13.000 statt rund 1.300, drohte dem Milliardenvolk kein weitverbreitetes Unheil. Der Druck auf die Regierenden kommt stattdessen aus einem politischen System, das unfähig ist, für Transparenz zu sorgen. Wochenlang verschweigen die Behörden in Guangdong – trotz beispielhafter Schutzmaßnahmen – das Ausmaß der Epidemie gegenüber Peking. So reagiert jede Lokalregierung – aus Angst für die Probleme verantwortlich gemacht zu werden. Vermutlich hat also die Zentralregierung wirklich nicht mehr als 22 SARS-Opfer in Peking zu vermelden – ihr fehlen schlicht Informationen, die nicht weiterzugeben sich untere Behörden längst schuldig gemacht haben.

Das hat derzeit täglich neue, unverhersehbare Konsequenzen: Gestern sind es die Vereinten Nationen, die nach taz-Informationen Peking auf die Liste der SARS-Infektionsgebiete setzen. Schon trauen sich die Studentinnen der Peking-Universität aus Angst vor Ansteckungsgefahr nicht mehr, die Toiletten ihrer Wohnheime zu benutzen. Wer weiß, was passiert, wenn der Unmut der Pekinger weiter wächst. Für ihre Wutausbrüche sind die Nordchinesen bekannt.