: Finale Ligure
Ein lächelndes Paar am Strand von Finale Ligure. Im Hintergrund der sinkende Sonnenball, so zeigt es das Foto. Michaela hockte fast ständig in der Strandbar. Eine traurige Urlaubsliebe
VON ANGELIKA BROX
Michaelas Aussehen und Michaelas Leben hatten eines gemeinsam: Sie waren vollkommen uninteressant und reizlos. Sie lebte allein in einer Zweizimmerwohnung, und den Männergeschichten ihrer Bürokolleginnen konnte sie nur neidisch lauschen, ohne jemals selbst etwas beizutragen. Doch eines Tages schien sie das große Los gezogen zu haben: Sie gewann bei einem Preisausschreiben eine Reise an die Riviera für zwei Personen. Sie flog allein.
Finale Ligure: heller Sandstrand, tiefblaues Meer, strahlend blauer Himmel. Graue Felsnasen, überzogen mit einem grünen Flaum aus Gräsern und niedrigen Sträuchern. Flatternde Sonnenschirme, bunte Badelaken und der Geruch von Sonnencreme. Plaudern, Rufen, Lachen. Badende Menschen. Flirtende Menschen. Glückliche Menschen. Michaela fühlte sich nicht wohl in ihrem altmodischen Badeanzug zwischen all den Bikinischönheiten. Sie streifte ihr neues blaues Sommerkleid über, ging zur Strandbar an der palmenbestandenen Uferpromenade und setzte sich mit vorgetäuschter Selbstsicherheit auf einen Hocker. Der Barkeeper sah aus wie ein junger Gott. Er hatte samtbraune Augen und schwarzes Haar, das zum Wuscheln einlud. Michaela straffte den Rücken. „Un Campari, per favore.“ „Subito, signora.“ Der junge Mann reckte sich, um die Flasche aus dem Regal zu nehmen. Er besaß schmale Hüften und einen strammen Hintern. Mit geübten Bewegungen öffnete er die Flasche, goss Campari in ein Glas, gab drei Eiswürfel dazu und klemmte eine Zitronenscheibe an den Rand. Seine gebräunten Hände wirkten empfindsam und dennoch männlich. Es musste eine Wonne sein, von ihnen gestreichelt zu werden. Er stellte das Glas vor Michaela auf die Theke. „Prego, signora.“
„Grazie.“ Michaela blätterte im Wörterbuch. „Mi chiamo Michaela.“
„O, signora spreken italiano! Brava! Sono Angelo Baldera.“
Sie hob ihr Glas und schenkte Angelo ein schmelzendes Lächeln. „Salute, Angelo.“
Von nun an hockte Michaela fast ständig in der Strandbar. Sie sog alle Bewegungen Angelos in sich auf, kannte bald jeden Muskel unter seinem Hemd und jede Falte auf seiner Hose. Nachts in ihrem Hotelbett erträumte sie sich romantische Szenen und eine wunderbare Liebesbeziehung mit ihrem Angelo. Von nun an würde sie jeden Urlaub in Finale Ligure verbringen, um ihren Geliebten wiederzusehen. Wie würden die Bürokolleginnen sie um diesen Traummann beneiden! … Aber würden sie ihr überhaupt glauben? Ein Foto – sie musste ihnen ein Foto zeigen, als Beweis!
An ihrem letzten Urlaubstag wagte sie es endlich, Angelo zu fragen. Er kam gutmütig lächelnd hinter der Theke hervor. Michaela gab einem anderen Bargast ihren Fotoapparat in die Hand und bat ihn, ein Foto zu machen. Dann baute sie sich mit dem Rücken zum Meer auf, sodass hinter ihr der sinkende Sonnenball zu sehen war, der rotgoldene Leuchtbänder auf die Kräuselwellen malte. Angelo stellte sich neben sie, legte einen Arm um ihre Schultern und schenkte der Kamera sein Adonislächeln.
„Dolcezza hat er mich immer genannt“, erzählte Michaela mit glühenden Wangen den staunenden Bürokolleginnen, „und er war so süß! Jeden Tag hat er mich mit seinem Cabrio abgeholt und mir die Umgebung gezeigt. Und erst die Abende am Strand …“ Sie seufzte. „Er ist ja so romantisch!“
Michaelas erster Arbeitstag war der schönste Tag ihres Lebens. Sie sonnte sich in der Aufmerksamkeit ihrer Kolleginnen, die mit anerkennenden Bemerkungen das Erinnerungsfoto herumreichten. Michaelas Glück währte so lange, bis sie zwei der Kolleginnen auf der Toilette belauschte.
„So ein süßer Typ wird gerade auf unser graues Mäuschen gewartet haben“, meinte die eine. „Dass ich nicht lache!“
Die andere kicherte. „Der war bestimmt bloß ein Papagallo.“
Der Schock ließ Michaelas Herz verkrampfen, alle Kraft schwand aus ihrem Körper.
Sie verließ das Büro und kehrte nie mehr dorthin zurück. In der gleichen Nacht starb sie an einer Überdosis Schlaftabletten. Sie lag auf ihrem Bett, in einem blauen Sommerkleid. Ein zerknittertes Foto war zu Boden gefallen: ein lächelndes Paar am Strand von Finale Ligure; im Hintergrund der sinkende Sonnenball, der rotgoldene Leuchtbänder auf die Kräuselwellen malte.
Angelika Brox arbeitete als Lehrerin im Ruhrgebiet und lebt jetzt in Münster. Sie schreibt und lektoriert und hat ihren ersten Roman für Kinder ab 10 Jahre fertig gestellt. Nun ist sie auf der Suche nach einem Verlag