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Archiv-Artikel

berliner szenen Bernhard revisited

Berlinfällen

„Die Berliner sind ja vollkommen unmusikalisch“, soll er zu Steglich gesagt haben, berichtet Henninger. „Verlasse ich Berlin“, soll er ausgerufen haben, „so verlasse ich eine absolut ordinäre und verrohte Stadt.“ Die politischen und kulturellen Verhältnisse seien hier schon seit langem die unerträglichsten, niederschmetterndsten, ja deprimierendsten. Verlasse man Berlin, so sei dies eine elementare Existenzrettungsmaßnahme. Mehrmals, so Steglich, berichtet Henninger, habe er laut die Worte „elementare Existenzrettungsmaßnahme“ ausgerufen. „Verlasse ich Berlin, so verlasse ich eine Stadt, in der der denkende Mensch alltäglich um die Erfüllung auch seiner allergeringsten geistigen Ansprüche gebracht wird, eine Stadt, in der die bodenloseste Unfreundlichkeit, die perfideste Rücksichtslosigkeit und die abgeschmacktesten Intrigen den Alltag seiner primitiven Einwohner bestimmen, nur die Testsieger einer kleingeistigen, größenwahnsinnigen Dummköpfellotterie können es in einer solchen abstoßenden Stadt länger aushalten“, habe er zu Steglich gesagt, erinnert sich Henninger. Während er im Lasker seine dritte Flasche Bier bestellte, habe er zuletzt plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen und ausgerufen: „Verlasse ich Berlin, so verlasse ich eine Stadt, in der Gerechtigkeit seit Jahrzehnten ein Fremdwort ist, in welcher die Wahrheit mit Füßen getreten und die Lüge als einziges Mittel für alle Zwecke von allen offiziellen Stellen geheiligt wird. Ich verlasse eine Stadt“, soll er auf seinem Ohrensessel sitzend erklärt haben, „in welcher die Wahrheit nicht verstanden oder ganz einfach nicht akzeptiert wird und das Gegenteil der Wahrheit einziges Zahlungsmittel für alles ist.“

JAN SÜSELBECK