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Archiv-Artikel

Am Ende des Prozesses bleiben alle Fragen offen

Am Ende des Bremer Brechmittel-Prozesses sieht alles nach Freispruch für den angeklagten Polizeiarzt aus. Über die Ursache des Todes eines afrikanischen Kleindealers kursieren zwei Theorien, die auch der Staatsanwältin beide plausibel erscheinen. Eine erinnert an den Tod eines mutmaßlichen Hamburger Dealers, der auch nach einer Exkorporation starb

von JAN ZIER

Am Ende überwiegen die Zweifel. Selbst die Staatsanwältin plädierte schließlich auf Freispruch für den angeklagten Polizeiarzt Igor V. Ihr Vorwurf der fahrlässigen Tötung Laya Condés, sagt sie, habe sich „nicht bestätigt“. Es sei „schlichtweg nicht festzustellen“, was genau den Tod des afrikanischen Kleindealers verursacht habe. Der 35-Jährige war am 27. Dezember 2004 von der Bremer Polizei als mutmaßlicher Straßendealer aufgegriffen worden, am Ende einer zwangsweisen Brechmittelvergabe im Polizeipräsidium ins Koma gefallen und Anfang Januar 2005 war der Hirntod eingetreten.

Sicher ist nur, dass dafür ein Sauerstoffmangel im Gehirn verantwortlich war. Und für den wiederum gibt es zwei mögliche Erklärungen, um die sich im Laufe eines langen Verfahrens vor dem Landgericht Bremen insgesamt acht Gutachter gestritten haben. Die eine Hälfte geht davon aus, dass der Sierra Leoner langsam „ertrunken“ ist: Igor V. hat ihm gegen seinen Willen soviel Wasser mittels einer Sonde in den Magen gepumpt, dass es in die Lunge eindrang, sagt diese Theorie. Infolgedessen trat Atemstillstand ein, schließlich der Hirntod. So lautete die Diagnose des hinzu gerufenen Notarztes, so sahen es zuletzt der Leiter der kardiologischen Abteilung des Bremer Klinikums „Links der Weser“ und der Chef-Pneumologe des Diakoniekrankenhauses Rotenburg.

Und dann gibt es noch eine andere Erklärung, der zufolge Condés Herzwand schon seit längerem krankhaft verdickt war, so dass zuletzt nicht mehr genügend Sauerstoff ins Hirn transportiert werden konnte. Das Wasser ist dieser These zufolge erst durch die Reanimation Condés in die Lunge gepresst worden. Es war demzufolge nicht Ursache des Kollapses, sondern dessen Folge. Diese These vom „toxischen Herzmuskelschaden“ hat unter anderem der Berliner Kardiologe Rudolf Meyer vertreten. Und gestern zuletzt der gegen den ausdrücklichen Willen der Strafkammer angehörte Sachverständige Klaus Püschel. Der 56-Jährige Professor am Hamburger Uni-Klinikum Eppendorf ist Leiter des Instituts für Rechtsmedizin – und ein ausgewiesener Befürworter von Brechmitteleinsätzen.

400 Mal schon hat er nach eigenen Angaben einen Einsatz des Brechmittelsirups Ipecahuana verantwortet, bisweilen freiwillig, manchmal unter Zwang. „Das ist prinzipiell eine ungefährliche Maßnahme“, sagte er gestern vor Gericht, „harmlos“, mindestens im Rahmen einer „deeskalierenden Strategie“. Das ist die Position, die er auch schon im Dezember 2001 vertreten hat, also unmittelbar nach dem Tod des mutmaßlichen Dealers Achidi John. Der Kameruner starb seinerzeit – nach einem Brechmitteleinsatz. Und Püschel war es, der sich schon unmittelbar danach gegen ein Moratorium aussprach, gegen eine Ende der umstrittenen Exkorporationen. Er sollte sich durchsetzen – und bereits wenige Tage danach wieder einen solchen Einsatz verantworten. Den Tod des Achidi John nennt Klaus Püschel einen „Zwischenfall“.

Einen, für den sich nie jemand vor Gericht verantworten musste – ein entsprechendes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, nachdem zuvor die Untersuchungen der Leiche ergaben, dass der 19-Jährige herzkrank war. Auch Laya Condés Herz war „versagensbereit“, sagt Püschel. Immer wieder zieht er den Vergleich zum „plötzlichen Herztod“, wie er auch bei zuvor als gesund befundeten Leistungssportlern mitunter auftritt, bei Marathonläufern etwa, während eines Wettkampfes. „Das kommt immer wieder vor“, sagt Püschel, „und nicht jeder, der so ein Herz hat, muss deswegen auch plötzlich tot umfallen“. Igor V. jedenfalls habe den Herzfehler nicht erkennen können.

Püschel war lange vor Prozessbeginn schon mal von der Bremer Staatsanwaltschaft als Gutachter angefragt worden – hatte seinerzeit jedoch abgelehnt, „um Diskussionen zu vermeiden“, wie er sagt, und weil er ja in den Todesfall von Achidi John „involviert“ war. Jetzt überwog offenbar sein Glaube „besonderen Sachverstand“ in den Bremer Brechmittel-Prozess einbringen zu können. Am Ende, sagt Püschel, sei Laya Condé gestorben, weil sein „hilfloser Zustand“ von allen Beteiligten „zu spät erkannt“ worden sei, die Wiederbelebung dann schon unter sehr erschwerten Bedingungen habe stattfinden müssen.

Viele Fragen konnten im Laufe des Prozesses nicht geklärt werden, nicht einmal, welche Magensonde benutzt, wie viel Wasser eingeflößt worden war. Und gerade über jenen Zeitpunkt, der für Condé besonders kritisch war, machten so gut wie alle Zeugen unterschiedliche Angaben. Dass Laya Condé „ertrunken“ ist, lasse sich jedenfalls nicht „mit Sicherheit“ beweisen, sagt die Staatsanwältin, ganz egal, was Püschel sagt. Plausibel erscheinen ihr beide Thesen. Zwar habe V. die eine oder andere Sorgfaltspflicht verletzt, auch „mehr schlecht als recht“ dokumentiert, doch der Tod des Afrikaners sei ihm „nicht zuzurechnen“. Das Urteil wird am 4. Dezember gesprochen.