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Archiv-Artikel

Lernen vom Schüler

Ohne Kapitän macht das Team Telekom beim Pflastersteinklassiker Paris–Roubaix eine passable Figur. Zu einer Top-Platzierung fehlt nur eines: ein Siegfahrer wie der Flame Peter van Petegem

aus Roubaix SEBASTIAN MOLL

Die Duschen im mehr als 100 Jahre alten Radstadion von Roubaix sind nicht eben Stätten der gehobenen Körperpflege. Nur brusthohe Betonwände trennen die Fahrer bei ihrer Waschung, die zum Ritual des monumentalsten aller Radrennen gehört, wie der Start am Schlossplatz in Compiègne und die 26 Kopfsteinpflasterabschnitte durch die Stoppeläcker des französischen Nordens. Der Saal ist finster und modrig und Reporter umringen die Kabinen, in denen sich die Männer den schweißverkrusteten Staub von den Leibern schrubben. Zu erschöpft, um ihre Privatsphäre zu verteidigen, lassen die Schwerstarbeiter der Landstraße die gierigen Journalisten über sich ergehen. „Wenn ich Paris–Roubaix mein Lieblingsrennen nennen würde“, ächzt da zum Beispiel Rolf Aldag nackt und nass in die Notizblöcke, „müsste man mich vor mir selbst schützen.“

Aldag mag Paris–Roubaix nicht – und doch trat er am Sonntag schon zum 13. Mal an. Und beeindruckte damit, wie er in der entscheidenden Phase das Geschehen maßgeblich bestimmte: Er attackierte couragiert 35 Kilometer vor dem Ziel zusammen mit dem Italiener Dario Pieri und kam am Ende nur 36 Sekunden hinter dem Sieger, dem Flamen Peter van Petegem, im tristen Velodrom an. Neunter wurde der 34 Jahre alte Westfale, sein bestes Ergebnis seit 1994.

Offenkundig liegt Aldag das Rennen, auch wenn er es nicht liebt. „Solange man am Horizont den Kamerahubschrauber über der Spitzengruppe sieht“, beschreibt er, wie man als Profi an Paris–Roubaix herangehen muss, „gibt es hier noch eine Chance.“ Mehr als irgendwo sonst lohnt es sich hier, niemals aufzugeben; „La Roubaix“ ist den Kämpfern und den Unbeugsamen hold – zu denen zählt Aldag.

Was nicht zuletzt sein Karriereverlauf belegt. „Als das mit Telekom 1993 anfing“, erinnert er sich, „hatte jeder von uns seine Chance.“ Die Hierarchien im Team waren noch nicht etabliert, die Rollen noch nicht verteilt. Doch nach und nach stellte sich heraus, dass Zabel und Olaf Ludwig, später Riis und Ullrich die Siegfahrer sind. Aldag fand sich mit der Helferrolle ab: „Lieber mit der Mannschaft die Tour gewinnen als alleine 30. werden“, war fortan seine Devise.

Aldag hat durchgehalten, und jetzt, zehn Jahre später, bekommt er doch noch seine Chance. Ullrich ist weg, Zabel wird altersmild und verzichtet zunehmend auf eigene Ambitionen. Das eröffnet Räume für die anderen. „Wir haben heute genau das gemacht, was wir uns zu Beginn des Jahres vorgenommen hatten“, sagte Zabel in den kargen Duschen des alten Velodroms. „Wir haben die Last auf mehrere Schultern verteilt und waren als Mannschaft stark.“

In der Tat war das Team Telekom ein famoses Rennen gefahren, auch wenn es am Ende nur zu Platz 8 durch Daniele Nardello, Platz 9 durch Aldag und Platz 15 für Zabel reichte. Dennoch: In jeder Rennphase war Telekom präsent, immer war ein Mann in Magenta dort, wo sich etwas tat. Zuerst Kai Hundertmarck, dann Andreas Klier, am Schluss Aldag, Nardello und Zabel. „Wir haben alles richtig gemacht“, freute sich am Ende sogar Teamchef Walter Godefroot. Ohne den verletzten Steffen Wesemann, der im Vorjahr Zweiter geworden war, sei einfach nicht mehr zu holen gewesen.

Die Last zu verteilen und ohne eindeutigen Kapitän zu fahren, hat sich in den vergangenen Jahren, als das Erfolgsrezept für Paris–Roubaix bewährt. Der Belgier Patrick Lefèvere hat mit dieser Philosophie als Sportlicher Leiter bei drei verschiedenen Mannschaften siebenmal gewonnen: „Ich verteile vor dem Rennen keine Rollen an Einzelne“, erklärt Lefèvere seine Philosophie. „Man muss bei Paris–Roubaix improvisieren können und Vertrauen in den eigenen Instinkt und den seiner Fahrer haben. Wenn man eine starre Taktik hat und etwas geht schief, entsteht Chaos. Und bei Paris–Roubaix geht immer etwas schief.“ Diesen Instinkt hat sich Lefèvere zuerst als Fahrer und später, in den 80er-Jahren, als Assistent von Godefroot bei drei verschiedenen Mannschaften geholt. Nun hat der Lehrer Godefroot offenkundig von seinem Schüler Lefèvere gelernt.

Was Godefroot indes derzeit fehlt, ist ein Fahrer der Klasse von Sieger Peter van Petegem oder von Johan Museeuw, dem Vorjahreschampion aus Lefèveres Mannschaft. Beide sind Flamen; auch Godefroot, der 1969 Paris–Roubaix gewann, ist Flame. Wegen dieser Dominanz bei den harten Rennen des Nordens ist ein „Flandrien“ im Radsport ein Synonym für Unbeugsamkeit. Rolf Aldag ist wohl der flandrischste Fahrer bei Telekom. Doch einen echten Flamen kann auch er offenbar nicht ersetzen.