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Die verdrossene Republik

Selbst in finsteren Zeiten hatte die SPD immer ein Ziel vor Augen. Doch wofür kämpft sie heute? Sie weiß es selbst nicht

von FRANZ WALTER

Im Mai feiern die Sozialdemokraten Geburtstag. Einhundertvierzig Jahre gibt es dann diese große, alte Partei schon. Doch ist in der SPD derzeit von Zuversicht, Stolz oder gar Festtagsvorfreude nicht sonderlich viel zu bemerken. Im Gegenteil, die Sozialdemokraten sind wieder einmal ziemlich unglücklich, hadern ein wenig weinerlich mit sich und ihrer Führung, zelebrieren erneut Krise und Niedergang. Sind die gegenwärtigen Bauchschmerzen der sozialdemokratischen Basis mehr als Wohlstandsblähungen einer etwas verwöhnten Regierungspartei?

Tatsächlich ist die Lage der SPD im Jahr 2003 in gewisser Weise trostloser als in manchen schrecklichen Zeiten der Verfolgung und Unterdrückung. Denn in den dunklen Jahren staatlicher und gesellschaftlicher Repression wussten die Sozialdemokraten immer genau, warum und wofür sie sich schlugen; sie hatten nie den geringsten Zweifel daran, dass sie die besseren Menschen in ihrem steten Kampf für eine bessere Gesellschaft waren. Ebendieser Glauben, diese innere Selbstsicherheit ist den Sozialdemokraten im neuen Jahrtausend gänzlich abhanden gekommen.

Dieser Verlust hat die Sozialdemokraten schon im Wahljahr 2002 von Januar bis Juli enorm demobilisiert, hat sie kampagnenunfähig, auch sprach- und argumentationsunfähig gemacht. Nur die tiefe Abneigung gegen den Bayern, seine CSU und den kecken Übermut der immer noch verhassten Schwarzen und Bürgerlichen hatte sie im vergangenen Spätsommer noch einmal kurz vor Toresschluss aus ihrer ratlosen Passivität aufgescheucht, zu guter Letzt in den Wahlkampf und an die Urnen getrieben.

Immerhin: aus dieser Lethargie und Erstarrung stößt sich die SPD in diesen Märzwochen von unten wieder heraus. Die ermatteten früheren Kader richten sich auf, verweigern offenkundig Bezirk für Bezirk, Landesverband für Landesverband die diskussionslose Gefolgschaftsdisziplin und Claqueurbereitschaft der letzten Jahre. Kurzum: Man bemerkt wieder Opposition in der SPD, ein bisschen jedenfalls. Nur: Diese Opposition ist durch und durch ziellos.

Und ebendas ist historisch neu; ebendas macht die Lage der SPD so prekär. Immer in den früheren Jahrzehnten verfügten innersozialdemokratische Oppositionelle in ihrem trotzigen Widerspruch gegen die jeweilige Parteiführung über zündende Parolen, leuchtende Visionen, kontrastscharfe Gegenpositionen: vom Modell der Rätedemokratie etwa über Pläne zur Investitionslenkung bis hin zum sozialökologischen Projekt. Das meiste davon war zweifelsohne absurd, vieles naiv, manches aber auch erfrischend, einiges sogar originell. Jedenfalls bot es durchgängig Kontur und Alternative. Es verlieh den innersozialdemokratischen Debatten Schärfe, Esprit und Substanz.

Doch die innersozialdemokratische Opposition heute zu Schröder ist ebenso rat-, sprach- und konzeptionslos wie Schröder selbst. Die sozialdemokratische Fronde hat außer dürren und schlecht gelaunten Defensivparolen der hölzernen Machart wie „Hände weg vom Sozialstaat“ nicht viel zu bieten. Denn die sozialdemokratischen Traditionalisten drücken sich ängstlich und fantasielos vor dem Problem, dass der beitragsfinanzierte deutsche Sozialstaat in der Tat außerordentlich wenig produktionsinvestiv ist, dass er durch teure Lohnnebenkosten die Arbeitsmarktprobleme gar noch verschärft und für staatliches Engagement diesseits der Sozial- und Rentenpolitik weder Raum noch Ressourcen übrig lässt.

Natürlich, man könnte den Sozialstaat auch ganz anders organisieren und finanzieren: über Steuern statt Beiträge. Das würde die Staats- und Steuerquote zwar noch weiter erhöhen. Aber mit einem solchen, gleichsam skandinavisch inspirierten Modell sind, wie die Empirie der nordeuropäischen Länder in den letzen Jahren pointiert und beeindruckend bewiesen hat, beachtliche Erfolge auch auf dem Arbeitsmarkt, überdies im Sektor Bildung und schließlich vor allem in der Familienpolitik zu erzielen.

Nur: eine ernsthaft Chance für einen solchen Weg gibt es in Deutschland wohl nicht. Der öffentliche Diskurs gerade bei den professionellen Kommunikationseliten dieses Landes läuft bekanntlich in die entgegengesetzte Richtung: weit weg vom Staat und erst recht von allen Steuererhöhungen. Einen hartnäckigen, offensiv und intelligent begründeten Alternativdiskurs für einen modernen, zivilisatorisch legitimierten Sozialstaat haben die Sozialdemokraten in den letzten Jahren auch nicht mehr geführt, ihn gegen die dominanten Interpretationseliten im Mediensektor nicht einmal gewagt. Eher gehörte es bei „modernen“ Sozialdemokraten unter vier Augen zum guten Ton, wohlfahrtsstaatliche Institutionen sowieso für anachronistischen Firlefanz zu halten.

Und so steht die Bundesrepublik in einem tief greifenden Dilemma. In Skandinavien gibt es in der Bevölkerung eine hohe Sozialstaatserwartung, aber auch eine ebenso hohe Abgabebereitschaft zur Sozialstaatsfinanzierung. Das geht ersichtlich gut zusammen. In den angelsächsischen Ländern dagegen existiert bei den meisten Menschen eine vergleichsweise geringe Sozialstaatsneigung, aber auch eine geringe Abgabementalität. Das läuft ebenfalls trefflich synchron. Die Deutschen indessen haben sich in einer verhängnisvollen Mitte angesiedelt: Sie haben auf der einen Seite außerordentlich hohe Ansprüche an den Sozialstaat und seine Leistungsfähigkeit, besitzen aber auf der anderen Seite eine denkbar geringe Neigung, dafür Zuwendungen über Steuern und Abgaben zu leisten. Ebendas funktioniert nun begreiflicherweise überhaupt nicht. 1997/98 wurde die christdemokratische Union dafür abgestraft, dass sie die sozialstaatlichen Standards reduzierte. Und die SPD triumphierte. Anfang 2003 versank die SPD im Umfrageloch, weil sie ihrerseits an den sozialstaatlichen Bestand ging, nachdem ihre zwischenzeitlichen Steuererhöhungsvorhaben das Volk und das ganze Deutungsestablishment auf die Barrikaden gebracht hatten. Davon profitierte diesmal die CDU. Bis zum nächsten Regierungswechsel. Dann dürfte sich das leidige Spielchen mit erneut verkehrten Rollen wieder fortsetzen. Die Regierungen können die sozialen Standards reduzieren; oder sie müssen sich um zusätzliche kollektive Finanzierungsquellen kümmern. Beides aber wird vom deutschen Elektorat derzeit gnadenlos abgestraft.

Darin liegt die Ziellosigkeit der deutschen Politik. Es ist eben nicht nur die Ziellosigkeit der sozialdemokratisch geführten Regierung oder der neuen innersozialdemokratischen Opposition. Es ist die Ziellosigkeit der Republik. Vielleicht ist es eben gerade diese Ziellosigkeit, die das Land so missgelaunt macht, so nölig, so folgenlos verdrossen.

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