: berliner szenen Die Sprache der Kindheit
Zehn Minuten Stütze
Manche Sprüche aus der Kindheit gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Zum Beispiel die Aufforderung „Sag mal Mütze!“, die „zehn Minuten Stütze“ mit dem Ellbogen auf der Schulter des anderen zur Folge hatte, die prä-68er-Erziehungsmaxime „Kinder mit’m Willen, kriegen eins auf die Brillen“ oder auch „If you think that fuck is funny, fuck yourself and save your money“. Das stand in den Siebzigern oft an den Wänden in den Haschkneipen- und Campingplatzklos, und es fällt einem manchmal nach dem Aufstehen wieder ein.
Man erinnert sich eher wertneutral – vermutlich, weil man die Kontexte nicht mehr kennt (Vietnam?), während andere Sprüche heftigste Aversionen auslösen. Zum Beispiel: „Immer wenn Artur Tee trank, konnte er mit den Vögeln telefonieren.“ Steht irgendwo in der Skalitzer Straße an einer Wand, kommt vermutlich aus den frühen Achtzigern. Schwer zu sagen, was genau an diesem Sprüchlein so unangenehm ist; das gewollt feist-lyrisch-besinnliche Moment oder die simple Tatsache, dass Vögel definitiv keine Telefone besitzen und ein Zwiegespräch zwischen Menschen und Vögeln weder unter dem Einfluss von Tee noch von Kaffee, Bier oder Hasch je stattfand bzw. stattfinden wird.
Andere öffentliche Sätze dagegen pendeln irgendwie rührend zwischen christlicher Existenzphilosophie und Poesiealbum. „Selbst zu werden denn was wäre mein einziges Geschenk an Dich wenn es nicht komplett wäre.“ Sieben Meter lang war dieser Satz, den so ein kleiner Junge, vielleicht 16, morgens um halb fünf auf den Bürgersteig gesprüht hatte. Er sagte, dies sei ein Gedicht, und wahrscheinlich richtete es sich an das Mädchen, das er verehrte und in dem Haus über dem Bürgersteig wohnte.
DETLEF KUHLBRODT