: Ein Hai im Sitzungssaal
Eichentäfelung statt White Cube: Charles Saatchi hat in London seine Saatchi Gallery at County Hall mit einer Damien-Hirst-Retrospektive eröffnet. Ein Verwaltungsgebäude aus der edwardianischen Ära beherbergt nun die Kunst der 90er-Jahre
von MARION LÖHNDORF
Charles Saatchi gilt als der Erfinder der Young British Artists, die mit Beginn der 90er-Jahre die zeitgenössische Kunstszene in Aufregung versetzten. Er sah alles, kaufte fast alles und blieb selbst unsichtbar. Weder trat er bei den Meetings seiner eigenen erfolgreichen Werbeagentur in Erscheinung noch bei Ausstellungseröffnungen. Auch seinen eigenen Partys blieb er fern. 1997 lancierte der 1943 in Bagdad als Sohn eines erfolgreichen jüdischen Textilhändlers geborene Großsammler die „Sensation“-Ausstellung, die Künstler wie Damien Hirst, Tracey Emin, Gary Hume, die Brüder Chapman, Ron Mueck und Sarah Lucas weithin bekannt machte.
Nun hat er seinen Künstlern eine Kultstätte gebaut. Mit Pauken und Trompeten und einer Party, die jetzt schon zu den gesellschaftlichen Top-Eevents des Jahres zählt, wurde die neue Saatchi Gallery an der South Bank in London am Dienstagabend eingeweiht. Hier präsentiert Charles Saatchi eine Auswahl seiner 3.000 Objekte umfassenden Sammlung, die als die weltbeste Kollektion der Kunst der letzten fünfzehn Jahre gilt. Und er überrascht erneut: Seine Entscheidung, die Kunstwerke nicht im zeitgenössischen Ambiente des üblichen White Cube zu präsentieren, sondern in den frisch renovierten Amtsräumen des einstigen Greater London Council, einem Verwaltungsgebäude aus der edwardianischen Ära, rief Erstaunen hervor.
Die Schock-Kunst der 90er ist jetzt in ehemaligen Büroräumen zu sehen, in eichengetäfelten Korridoren, in Treppenaufgängen und marmornen Sitzungssälen mit Kuppeldecken. Die meisten der relativ kleinen Räume sind über labyrinthische Korridore zu erreichen. Hinter den geöffneten Türen erwartet den Besucher sparsam gehängte Kunst mit viel Raum zwischen den einzelnen Arbeiten. Die meisten Türen sind verschlossen, und man weiß nicht, was sich dahinter verbirgt: ein Effekt, der zur theatralischen Inszenierung der Sammlung gehört.
Die Architektur gibt zweifelsohne Ton und Tempo an, wird zum Teil der Gesamtinszenierung, so wichtig wie die Kunstwerke selbst. Man vergisst nie, in einem offiziellen Gebäude politischer Machtentfaltung zu sein; aber man vergisst ebenso wenig, dass deren Zeiten vorbei sind. Die Bakelituhren über den Kaminen in den zu Kunsträumen gewordenen Büros sind stehen geblieben, alle übrigens zu unterschiedlichen Zeiten. Saatchi besitzt – wie sich auch in der Auswahl seiner Kunstwerke niederschlägt – einen ausgeprägten Sinn fürs Narrative und, ohne Frage, für Pathos.
Bemerkenswerterweise haben die Betrachter direkten Zugang zu den Werken, die ohne Absperrseile präsentiert werden. Die Erklärungen zu den Arbeiten sind verspielt, ironisch, philosophisch gar boshaft. Über die überlebensgroße Skulptur von Ron Mueck, „Mask“ (1997), ein Selbstporträt mit verärgertem Gesichtsausdruck, heißt es: „It’s no wonder babies scream.“
Alle Wege der Saatchi Gallery führen zu einem runden, pantheonartigen Sitzungssaal. Hier hat der Sammler die Ikonen der Brit-Art versammelt, Bilder, die im öffentlichen Bewusstsein bereits so fest verankert sind wie die Images aus der Welt des Pop: Marc Quinns „Self“ (1991), der Abguss seines Kopfes aus neun Pints seines eigenen, gefrorenen Bluts, wartet am Eingang, Tracey Emins „My Bed“ (1998) steht in einer Nische, Ron Muecks „Dead Dad“ (1996–97) liegt klein und bleich im Zentrum, dahinter schwimmt Damien Hirsts Hai („The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living“, 1991) in Formaldehyd. Zum ersten Mal seit der „Sensation“-Show ist Marcus Harveys aus Abdrücken von Kinderhänden zusammengesetztes Porträt der Kindermörderin Myra Hindley zu sehen, das damals von einem Besucher beschädigt wurde. Über allem erhebt sich in der Rotunde der bunt bemalte Bronzeguss eines anatomischen Spielzeugmodells, Damien Hirsts „Hymn“ (1999), das Saatchi für eine Million Pfund gekauft hat.
Damien Hirst, dem, wie es in der Ausstellung heißt, „Alpha-Männchen“ der britischen Kunst, ist eine Einzelausstellung gewidmet, die erste Retrospektive seiner Werke überhaupt. Hirsts Arbeiten sind dabei von denen der übrigen Künstler räumlich nicht getrennt. Seine berühmtesten Werke, der in Formaldehyd eingelegte Hai, die Kuh, das Schaf („Away From the Flock“, 1994) und das Schwein („This Little Piggy Went To Market, This Little Piggy Stayed Home“, 1996), sind die Prunkstücke der Schau. Im Vorfeld der Eröffnung stiftete Hirst Ärger. Obwohl er im Zentrum der Ausstellung steht und Saatchi als sein Entdecker gilt, bezeichnete er die neue Galerie im Stadtmagazin Time Out als „sinnlos“. Die gezeigten Werke seien schon zu oft ausgestellt worden. Und er versicherte, dass nun er derjenige sein werde, der bei der Eröffnungsparty fehle.
Damien Hirst, bis 31. AugustInfos: www.saatchi-gallery.co.uk