„Noch nicht Herr der Lage“

Interview GEORG BLUME

taz: Sind Viren die Auslöser neuer Zivilisationskrankheiten?

Dr. Wolfgang Preiser: Generell gesagt ist das falsch. Richtig ist jedoch, dass nach einer Phase, in der man die Infektionserreger – darunter allgemein die Viren – als besiegt glaubte, das Bewusstsein zurückgekommen ist, dass wir der Lage immer noch nicht Herr sind. Inzwischen wissen wir wieder, dass wenn der eine Feind besiegt ist, der nächste auftaucht. HIV-Aids hat diese Erkenntnis zurückgebracht, aber auch SARS passt in dieses Bild.

Sehen Sie SARS schon heute als weltweite Gefahr?

Wir Mediziner zählen SARS zu den „neu auftauchenden Viren“, die es seit Jahrhunderten gibt, deren Ausbreitung aber ständig zunimmt. Hier ist das SARS-Virus eines der bedrohlichsten, das wir kennen. Denn es ist sehr ansteckend und führt zu einer schweren Erkrankung. Aufgrund seiner leichten Ausbreitung von Mensch zu Mensch hat es darüber hinaus das Potenzial, zu einer weltweiten Pandemie zu führen.

Wie sicher sind Sie sich über das Ausmaß der Gefahr?

Wie wissen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, ob SARS nur ein Vorbote für Schlimmeres oder schon die wahre Katastrophe ist. In jedem Fall aber ist SARS eines von vielen Warnzeichen, die uns sagen, dass wir durch die menschlichen Eingriffe in die Natur einer Fülle von Erregern ausgesetzt sind. Diese Erreger sind in der Natur bereits vorhanden, verändern sich aber oder wechseln den Wirt, wenn sich die Lebensbedingungen ändern. Die Gründe hierfür reichen von Klimaveränderungen über perverse industrielle Praktiken, siehe BSE, bis hin zum Abholzen des Urwalds und den Verzehr von wilden Tieren, wie beim Ebola-Virus. In der Regel lassen sich diese Erreger nicht sehr leicht von Mensch zu Mensch weitergeben. Aber dann gibt es eben Ausnahmen wie SARS.

Stammt das SARS-Virus aus China?

Eine solche Behauptung wäre unfair. Aids wurde in Amerika entdeckt. Aber heute weiß jeder, dass der Ursprung der Krankheit in Afrika liegt. Insofern kennen wir derzeit nur den Ort der Entdeckung der SARS-Krankheit – die Stadt Foshan in der südchinesischen Provinz Guangdong, wo im vergangenen November die ersten Fälle auftraten – aber nicht den Urspungsort des Virus.

Erst nach langem Zögern der chinesischen Behörden durften Sie und Ihre WHO-Kollegen die Krankenhäuser in Foshan und anderen Orten Guangdongs besuchen. Noch länger mussten Sie auf die Besuchserlaubnisse der Pekinger Krankenhäuser warten. Hat die chinesische Regierung der Welt das Ausmaß der SARS-Verbreitung verschweigen wollen?

China hat sich bestimmt in gewisser Hinsicht ungeschickt verhalten. Aber von groben Fehlern kann man nicht sprechen. Zu den Verdiensten zählt, dass die Ärzte in Guangdong sehr schnell bemerkten, dass sich unter den üblicherweise vorkommenden Lungenentzündungen eine früher nicht bekannte Untergruppe befindet, die hochansteckend ist, nicht auf Antibiotika anspricht und an der auch junge gesunde Leute schwerst erkranken – nämlich die SARS-Fälle. So wurden auch relativ schnell Maßnahmen getroffen, die zum Beispiel im Krankenhaus die Übertragung des Virus verhindert haben. Zugleich wurde die Sache epidemiologisch sehr gut aufgearbeitet, es wurden also auch noch nachträglich Fälle aufgedeckt, die vorher nicht bekannt waren. Die Krankenhäuser machten dabei insgesamt einen sehr modernen, sauberen Eindruck – ausgestattet mit Bankautomaten und Geschäften, schöner, als was ich in Deutschland bisher gesehen habe.

Das alles ändert nichts daran, dass die Öffentlichkeit inner- und außerhalb des Landes nicht oder zu spät informiert wurde.

China hätte der Welt helfen können, wenn es früher Informationen weitergegeben hätte. Vielleicht hätte man dann die immer wieder erfolgten Verschleppungen des Virus verhindern können. In Hongkong und Singapur hätten sich die Krankenhäuser beispielsweise früher schützen können. Dort sind heute hunderte von Krankenhausangestellten SARS-infiziert.

Besonders dürr erscheint weiterhin die Informationslage in Peking.

Hier herrscht große Verwirrung. Sie resultiert zum einen daher, dass die Militärkrankenhäuser ihre SARS-Fälle nicht den Stadtbehörden melden. Das ist insofern bedeutsam, da wir von SARS-Ausbrüchen in zwei Pekinger Militärkrankenhäusern wissen, über die wir im Detail nicht sprechen dürfen. Zum anderen besteht Unklarheit über die Kategorisierung der Fälle. Wir wissen nicht, wo die Behörden die Grenzen ziehen zwischen Erkrankungen, Verdachtsfällen und solchen Fällen, wo Patienten nur beobachtet werden. Insgesamt liegt dann die Zahl der Behandelten im dreistelligen Bereich – das schafft Gerüchte, dass auch die Zahl der Erkrankten so hoch ist.

Die Forderungen der WHO nach mehr Transparenz haben also zumindest in Peking wenig bewirkt.

Wir sagen den Behörden hier, dass jedes Abwiegeln gefährlich ist. Denn es kann explosionsartige Ausbrüche geben, auf die man dann nicht vorbereitet ist. Zudem kann man langfristig nichts gewinnen, wenn man ein Problem, das sich auf Dauer nicht verstecken lässt, jetzt unter den Teppich kehrt.

Was halten Sie von der Ankündigung, dass zur Vorbeugung gegen SARS alle 63.000 Taxis in Peking desinfiziert werden sollen?

Das ist für mich Esoterik. Die chinesischen Behörden reden furchtbar viel von Desinfektion. Angespuckte Oberflächen aber sind keine Hauptinfektionsquelle, das sind vielmehr die symptomatisch infizierten Patienten. Erfolgreiche SARS-Vorbeugung besteht also vor allem in der frühzeitigen Warnung und eventuellen Isolierung der Kontaktpersonen von SARS-Erkrankten.

Wenn nur die Kranken selbst ansteckend sind, warum warnt dann die WHO allgemein vor Reisen nach Hongkong und Guangdong?

Es ist eben nur bei den meisten Fällen so, dass ein naher Kontakt zu dem bereits Erkrankten erforderlich ist, um sich zu infizieren. Andererseits gibt es beunruhigende Ansteckungsfälle beispielsweise im Flugzeug, ohne dass man unbedingt nebeneinander saß, oder in Wohnanlagen in Hongkong, wo sich das Virus auf mysteriöse Weise explosionsartig verbreitet hat. Trotzdem halte ich persönlich die Reisewarnungen für etwas übertrieben. Denn die Inzidenz bezogen auf die Bevölkerungsgröße in Guangdong und Hongkong ist sehr gering.

Was muss der deutsche Bürger über SARS wissen?

Er sollte sich informiert halten, ohne auf Panikmache hereinzufallen. Die Infektionsgefahr für den deutschen Normalbürger ist gleich null, es sei denn, er reist in die betroffenen Gebiete oder hat engen Kontakt mit Personen, die sich in diesen Gebieten aufgehalten haben. Auch dann aber sollte man bitte schön nur bei Husten, Schnupfen, Heiserkeit in Verbindung mit Fieber aufmerksam werden und sich entsprechend untersuchen lassen.

Welche Lehren hält das Virus für unsere Gesundheitspolitik bereit?

Die Globalisierung hat für ein solches Virus Möglichkeiten geschaffen, sich in kürzester Zeit über die ganze Welt auszubreiten. Gleichzeitig sind wir offenbar nicht in der Lage, so einfache Dinge wie Flugpassagierlisten auch nur halbwegs sinnvoll aufzuarbeiten, um weitere Ansteckungen zu vermeiden. Diesmal wurde das SARS-Virus von Hongkong nach Toronto eingeschleppt, und noch bevor man es merkte, kam es zu zahlreichen Kontaktfällen. Man darf also nicht länger unterschätzen, wie schnell das geht.

Welches wäre die wahre, von einem Virus ausgelöste Katastrophe, von der Sie am Anfang sprachen?

Bisher haben wir damit gerechnet, dass ein neues Influenza-Virus entsteht, wahrscheinlich durch Mischung von tierischen und menschlichen Influenza-Viren in einem geeigneten Wirtsorganismus. Dieses neue Virus hätte zwei Eigenschaften. Die eine wäre die leichte Übertragung von Mensch zu Mensch. Die andere ist vom menschlichen Immunsystem, auch von Leuten, die geimpft sind oder sich durch eine Influenza-Infektion immun gemacht haben, nicht mehr wirksam zu erkennen. Das heißt, wir würden alle infiziert werden können. Zudem würde sich das Virus rasend schnell weiterverbreiten – innerhalb von wenigen Tagen rund um die Welt. Im Jahr 1918, als so ein solcher Katastrophenfall schon einmal eintrat und Millionen Todesopfer forderte, dauerte es noch Monate, bis sich das Virus in der ganzen Welt verbreitete.