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Archiv-Artikel

Schießend sterben

Vor sechzig Jahren erhoben sich die Juden im Warschauer Ghetto. Wie der Aufstand der Verzweifelten missverstanden wurde und wird. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte

von GABRIELE LESSER

Der Massenmord an den Juden war ein furchtbares Verbrechen. Zeitzeugen wie Historiker haben nie die richtigen Worte finden können, um es zu benennen: Vernichtung, Menschenvernichtung, Judenvernichtung. Der Ort, an dem die Nazis die meisten Menschen ermordeten, die Gaskammern, nannte man Todesfabriken der Judenvernichtung. Die Menschen, die nach Jahren des Hungers, Elends und der Hoffnung auf ein Überleben doch noch den Weg ins Gas antreten mussten, wurden zu „Lämmern, die sich zur Schlachtbank führen ließen“.

Ihr Tod war sinnlos. Wie sollten die Überlebenden an sechs Millionen Menschen erinnern, ohne vor lauter Verzweiflung den Lebenswillen zu verlieren? Allein in Warschau hatten die Deutschen fünfhunderttausend Juden ermordet. Diejenigen, die dort vor dem Krieg lebten und ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, sowie weitere 150.000, die die Nazis aus den umliegenden Städten und Städtchen und selbst aus Deutschland ins Ghetto nach Warschau verschleppt hatten.

Der Ghettoaufstand hingegen, der Kampf mit der Waffe in der Hand, schien den Tod noch in der Erinnerung erträglicher zu machen. Denn der Kampf suggerierte, dass es sich nicht mehr um ein Verbrechen an den Juden handelte, sondern um einen Krieg, in dem die Juden ihr Volk verteidigten, für die Freiheit in Polen kämpften, für den Antifaschismus oder zumindest – für einen Tod in Würde und Ehre.

Der Bildhauer Nathan Rapoport überlebte die Naziokkupation Polens in Minsk, Nowosibirsk und Moskau. Hier schuf er 1943 das erste Modell für das fünf Jahre später errichtete Ghettodenkmal in Warschau. Er wollte, dass „das heroische und tragische Ende ihres Lebens über Generationen hinweg in Erinnerung“ bliebe, wie er 1987 in seinen Memoiren festhielt. Tatsächlich schuf er ein überdimensionales Heldendenkmal mit muskulösen Männern, zwei mit Gewehren und Patronengürteln bewaffneten Kindern und einer Frau mit Kleinkind, deren Brust wie auf dem berühmten Freiheitsbild von Delacroix entblößt ist. Die Flammen des brennenden Ghettos greifen bereits nach ihr. Das Ende ist nahe. An den Seiten des Denkmals stehen zwei steinerne, von Löwen flankierte Menorot, die siebenarmigen Leuchter der jüdischen Liturgie, die bei Feierlichkeiten angezündet werden. Die in drei Sprachen wiedergegebene Inschrift auf dem Sockel lautet: „Dem jüdischen Volk – seinen Kämpfern und Märtyrern.“

Erinnerungswürdig erscheint Rapoport der heldenhafte Widerstand, der Sieg sogar in der Niederlage, nicht aber die Massenvernichtung Hunderttausender, die mit Viehwaggons nach Treblinka transportiert wurden. Zwar gedenkt er auch dieser Opfer auf dem Denkmal, doch nur auf der Rückseite, die nur selten beachtet wird. Hier gibt es keine Inschrift, keine Löwen, keine Menorot. Ein Flachrelief in Granit zeigt einen Zug junger und alter Juden, die mit gesenktem Haupt dem Tod entgegengehen, in ihrer Mitte ein Rabbiner mit einer Thorarolle.

Diese Interpretation des Ghettoaufstandes wurde auf der ganzen Welt übernommen, die Helden aber für die je eigenen ideologischen Zwecke instrumentalisiert und vereinnahmt. Am sinnfälligsten zeigen dies die angeblich gehissten Flaggen und gesungenen Lieder. Einmal ist es eine weiß-rote Fahne, die angeblich auf den Dächern des brennenden Ghettos flatterte, dann wieder eine blau-weiße und schließlich auch eine rote. In der nationalpolnischen Interpretation singen die Aufständischen die Rota, ein polnisches und zugleich antideutsches Lied, in der zionistischen die Hatikwa, die spätere israelisches Nationalhymne, und in der antifaschistischen die Internationale. Es scheint allerdings schwer vorstellbar, dass die völlig ungenügend bewaffneten Ghettokämpfer beim Anblick der SS und ihrer Panzer ein Lied angestimmt hätten, und sei es nur, um sich Mut zu machen. Marek Edelman, der letzte noch lebende Anführer des Aufstandes, meinte in seinem berühmt gewordenen Interview mit Hanna Krall, dass die Aufständischen sicher gerne Flaggen gehisst hätten, nur habe man im Ghetto keine zur Hand gehabt.

Im kommunistischen Polen wurde der Ghettoaufstand 1943 gegen den Warschauer Aufstand 1944 ausgespielt, da dieser von der konservativen Exilregierung Polens in London unterstützt worden war. Während das Regime den einen Aufstand alljährlich mit militärischen Ehren feierte, wurde der zweite völlig ignoriert. Ein Denkmal für den Warschauer Aufstand konnte erst nach der Wende 1989 entstehen. Nach der Verhängung des Kriegsrechts über Polen am 13. Dezember 1981 ließ General Jaruzelski die privaten jüdischen Gedenkfeiern vor dem Ghettodenkmal verbieten. Doch nicht nur die Kommunisten Polens vereinnahmten den Ghettoaufstand für ihr eigenes Regime. 1993 erklärte Staatspräsident Lech Walesa in seiner Ansprache zum fünfzigsten Jahrestag des Ghettoaufstandes, dass es sich hierbei „um den polnischsten aller Aufstände, nämlich den aussichtslosesten“ gehandelt habe.

Für Israel und das Selbstverständnis seiner Staatsbürger ist der Ghettoaufstand von zentraler Bedeutung. Wenn in diesem Jahr am 29. April die Sirenen in Israel heulen, verharren Fußgänger und Autofahrer für zwei Minuten in Schweigen. Zwar hatte der Aufstand in der Nacht auf Pessach, am 19. April 1943, begonnen, doch wurde der Holocaust-Gedenktag so festgesetzt, wie es die religiösen Vorschriften zuließen, die während der Tage des Pessachfestes Trauer untersagen. Als das Gesetz 1951 in der Knesset verabschiedet wurde, bezog sich Rabbi Nurock ausdrücklich auf die Staatsgründung Israels: „Wir haben einen Friedhof vor unseren Augen gesehen, einen Friedhof für sechs Millionen unserer Brüder und Schwestern, und vielleicht wurde uns ihres Blutes wegen das Vorrecht zuteil, einen eigenen Staat zu gründen.“

Das gewählte Datum läutet eine Folge von drei eng miteinander verbunden Gedenktagen in Israel ein: zunächst Jom Ha-Shoa, danach Jom Ha-Sikarom, der Gedenktag für die Gefallenen der israelischen Kriege, und schließlich Jom Ha-Azmaut, der Unabhängigkeitstag Israels. Damit ist der Warschauer Ghettoaufstand zu einem Teil der israelischen Geschichte geworden, er verbindet die kämpfende zionistische Jugend des Warschauer Ghettos mit dem bewaffneten Kampf für den israelischen Staat.

Mit der Betonung des „Heldentums“ bemüht sich das offizielle Israel um eine Art „Ehrenrettung der Juden in der Diaspora“, die der verbreiteten Geringschätzung der angeblich passiven Opfer entgegenwirken soll.

Zugleich lindern die Warschauer „Helden“ aber auch ein unterschwelliges Schuldgefühl gegenüber den Opfern der Schoah, denen zunächst der Jischuf, also die jüdischen Siedlungen in Palästina bis zur Gründung des Staates Israel, kaum Hilfe hatte zukommen lassen und deren Berichte nach ihrer Ankunft in Israel anfangs niemanden interessiert hatte.

Die große Demontage des Heldenbildes der Warschauer Aufständischen hatte Marek Edelman in seinem Interview mit Hanna Krall Ende der Siebzigerjahre eingeleitet. „Du musst das endlich verstehen“, sagte er zu Hanna Krall, „diese Menschen gingen ruhig und würdevoll. Es ist schrecklich, wenn man so ruhig in den Tod geht. Das ist wesentlich schwieriger als zu schießen. Es ist ja viel leichter, schießend zu sterben, es war für uns viel leichter zu sterben als für einen Menschen, der auf den Waggon zugeht und dann im Waggon fährt und dann eine Grube für sich gräbt und sich dann nackt auszieht … Verstehst du das jetzt?“

In Polen gibt es inzwischen den „Gedenkweg jüdischen Märtyrertums und Kampfes“, der vom Ghettodenkmal zum Denkmal Umschlagplatz führt und auf neunzehn ein Meter hohen Steinen an einzelne Menschen erinnert: an den Dichter Itzhak Katzenelson, der das „Lied vom ausgerotteten Volk“ geschrieben hat, an den Religionsführer Itzhak Nyssenbaum und andere.

Auch in Israel weicht das unpersönliche Gedenken an „die Helden“ mehr und mehr dem individuellen Gedächtnis. Dies zeigt beispielsweise die überaus freundliche Aufnahme des Filmes „Der Pianist“ von Roman Polanski. Der „Held“ Wladyslaw Szpilman überlebt das Warschauer Ghetto gerade deshalb, weil er kein Held ist, auch gar keiner sein will, sondern nur wieder Klavier spielen möchte.

Der Film machte auch klar, dass es „Helden“ im Ghetto gab, die bis heute niemand geehrt hat: die Kinder, die täglich Essen ins Ghetto schmuggelten und damit ihre Familien am Leben hielten.

GABRIELE LESSER, Jahrgang 1960, ist Polenkorrespondentin der taz. Sie lebt in Warschau