Die Eroberung des Nichts

Scheinbar endlose Serpentinen. Die Höhenluft und die Kälte lassen einem die Bewegungen wie in Zeitlupe erscheinen, es ist, als schwimme man in Honig und atme dabei Watte: Mit dem Bike auf den 4.200 Meter hohen Mauna Kea auf Hawaii

45 Meilen, 76 Kilometer lang Anstieg, 4.200 Höhenmeter

von SEBASTIAN MOLL

Es gibt kaum einen Berg, auf dem man dem Himmel näher ist als auf dem Mauna Kea auf Hawaii, der größten Insel des gleichnamigen Atolls. Am Rand des seit über 100 Jahren inaktiven Vulkankraters befindet man sich 4.200 Meter über dem Meer. Zu sehen ist hier, weit über den Wolken, allein der Vulkangipfel des Haleakala in 200 Kilometer Entfernung auf der Nachbarinsel Maui. Als Umriss, als leichte Tönung inmitten endlosen Blaus. Auf dem Mauna Kea steht man im Nichts, das nächste Festland ist tausende Kilometer entfernt.

Kelly Wagner hat seit etwa zehn Jahren ein Fahrradgeschäft in Kailua-Kona, einem Ferienort auf der dem Passat abgewandten Seite der Insel. Als ich ihm eine E-Mail aus Deutschland schickte, dass ich mit dem Bike auf den Mauna Kea fahren möchte, war er sofort Feuer und Flamme. Die Straße, die von Hilo auf der anderen Seite der Insel zum Gipfel führt, ist die längste Passstraße der Welt. 45 Meilen, 76 Kilometer lang Nonstopanstieg, 4.200 Höhenmeter am Stück. „Das machen höchstens ein, zwei Leute im Jahr“, hatte er gesagt. Das Spektakel wolle er gerne miterleben, für ein Abendessen und eine Übernachtung in Hilo würde er mitkommen und mich von seinem Auto aus versorgen.

Als weiteren Begleiter hatte er Jesse ausgesucht. Jesse ist Tourenführer für Kelly, wenn er nicht als Barkeeper in einem Touristenhotel in Kona arbeitet. Früher war Jesse Koch bei der Marine, war in Pearl Harbor auf O’ahu stationiert. Jesse hat mit Hilfe des Fahrradfahrens seine Alkoholsucht überwunden. Aber der Inbegriff eines Athleten ist der korpulente Kalifornier noch immer nicht. Ich traue ihm nicht zu, bis zum Gipfel zu kommen. Er selbst im Übrigen auch nicht. Aber Jesse überrascht mich. Als wir auf die Saddle Road – die uns auf die Hochebene unterhalb des Vulkans führt – einbiegen und durch die Vororte von Hilo langsam an Höhe gewinnen, gibt er den Takt vor.

Scheinbar endlos ziehen sich rechts und links der Straße Armeebaracken aus den Vierzigerjahren dahin, bis langsam der Dschungel die Oberhand über die menschlichen Behausungen gewinnt. Es ist noch früh und noch nicht heiß, exotische Vögel geben Laute von sich, die ich noch nie gehört habe. Die Farne rechts und links sind so groß, dass man sich darin einwickeln kann, der süße Duft der Plumeria steigt in die Nase.

Mittlerweile haben wir uns eingefahren und treten bei dem milden Anstieg einen angenehmen Rhythmus, bei dem wir gut vorankommen. Nach gut zwei Stunden sind wir so hoch, dass der tropische Regenwald aufhört. Vor uns liegt ein wunderbares Hochtal zwischen dem Mauna Kea und dem Mauna Loa, dem zweiten Vulkan der Insel, der auch über 4.000 Meter hoch ist. Der Mauna Loa (Langer Berg) ist jünger als der Mauna Kea, brach 1942 zum letzten Mal aus und hätte um ein Haar ganz Hilo ausgelöscht. Von ihrem Sockel am Meeresboden gemessen, gelten der Mauna Kea und der Mauna Loa mit rund 10.000 Meter Höhe als die größten Berge der Erde.

Ein hundert Meter hoher Hügel, ein Erdhaufen, wie willkürlich hingeworfen, markiert den Abzweig von der Saddle Road zur Mauna Kea Summit Road. Wir sind jetzt auf 2.300 Meter, und um uns herum ist die Landschaft wie eine Kulisse aus dem „Herrn der Ringe“. Alte, verwitterte Krater sind mit Moos überzogen, vor dem Mauna Kea, der über allem thront, liegen Hänge in unwirklichem Rot und Ocker. Um den Gipfel wehen dichte weiße Wolken.

Bis hier war die Reise eine angenehme Sache. Die Furcht vor der Höhenluft über 3.500 Meter macht mir zwar ein wenig Magengrimmen, aber da es bis hier so gut ging, glaube ich an einen leichten Sieg. Deshalb trete ich ein wenig fester in die Pedale. Die Summit Road steuert schnurgerade den Gipfel an, der zum Greifen nahe vor uns liegt, und macht einen glauben, man sei fast oben angelangt. Doch nach einer guten Stunde vergeht mir der Übermut. Die Straße wird immer steiler, bis zu 17 Prozent Steigung, und ich merke, dass ich nicht mehr frisch bin. Die letzten Meter bis zum Visitor Center auf 3.100 Meter Höhe sind eine Qual. Eigentlich reicht es mir jetzt schon. Jesse wird hier aufgeben und drinnen bei heißer Schokolade warten, bis wir vom Gipfel zurückkommen.

Mir zittern die Beine, und ich glaube nicht, dass ich noch drei Stunden Rad fahren kann. Zudem wird gemeldet, dass es am Gipfel null Grad habe und Sturmböen von bis zu 80 Stundenkilometern. Ich schalte innerlich um auf Autopilot, auf die in jahrzehntelangem Ausdauerleistungssport erworbene Fähigkeit, sich von den Körpermeldungen des Unwohlseins und der Schmerzen abzuspalten und stoisch weiterzumachen, einfach immer weiterzumachen.

Die nächste Serpentine, dann noch eine, dann noch eine, dann noch eine. Zunächst mal nur, bis die 5 Meilen Schotter vorbei sind, die ab dem Visitors Center beginnen. Danach wird schon alles leichter werden. Wenn man an steilen Stücken der Schotterstraße in Flecken losen Gerölls gerät, schießt der Puls schlagartig nach oben und pocht ungnädig an der Schläfe. Der Autopilot setzt phasenweise aus, die Versuchung, abzusteigen, wird mitunter zum Krieg gegen sich selbst.

Als der Schotter dann endlich zu Ende ist, wird gar nichts leichter. Die Höhenluft und die Kälte lassen einem die Bewegungen wie in Zeitlupe erscheinen, es ist, als schwimme man in Honig und atme dabei Watte. Die Tachonadel kratzt bei vier Meilen pro Stunde herum. Immerhin, der Gipfel ist zu sehen.

Als ich in die letzte Serpentine einbiege und der Wind wieder von vorn kommt schreie ich Kelly an, er solle mit seinem Explorer vor mir fahren. Auf keinen Fall jetzt, nur ein paar hundert Meter vor dem Ziel, noch absteigen müssen. Doch das Manöver erübrigt sich, plötzlich steht der Wind still. Ich rolle mühelos bis ans Ende der Straße. Es ist still, totenstill. Vor mir das tiefblaue Nichts. Ich spüre keinen Triumph, keine Euphorie, nur Leere. Während wir mit aufgedrehter Heizung im Explorer zu Tal knattern, gibt es auf einmal Schatten und Farben, die Landschaft wird lebendig. Oder war sie das beim Aufstieg schon?