: Neues Leben in einer neuen Stadt
aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY
lm Arabischen werden Väter meist nicht mit ihren Namen angesprochen, sondern mit dem ihres ältesten Kindes. Abu Inas, der Vater von Inas, mit dem unser Korrespondent Karim El-Gawhary während des Krieges telefoniert hatte, um ein Tagebuch über das tägliche Leben in der Stadt zu erstellen, und dessen Name zu seiner Sicherheit verändert wurde, hat in Wirklichkeit eine zehnjährige Tochter namens Sarah. Nun hat unser Korrespondent Abu Sarah und seine Familie in Bagdad gesucht, ohne sich vorher ankündigen zu können. In der Stadt gibt es weder Strom noch Telefone. Die beiden Töchter Sarah und Sama (8) spielten gerade mit den Nachbarkindern auf der Straße. Abu Sarah oder Zuhair Radwan, wie sein offizieller Name lautet, der ein in Badgad geborener Palästinenser ist, stand am Gartentor und wollte gerade zur neu eröffneten Bäckerei gehen, um Brot zu kaufen. „Wenn wieder Besuch aus dem Ausland kommen kann, ist wohl das Schlimmste überstanden“, sagt seine irakische Frau Intisar zur Begrüßung und bricht in Tränen aus.
Zum ersten Mal nach dem Ausbruch des Krieges fährt Intisar durch die Stadt. Sie sitzt schweigend auf dem Rücksitz des Wagens. „Das ist eine vollkommen andere Stadt als die, in der ich noch vor einem Monat gelebt habe“, unterbricht sie nur kurz die Stille. Wir fahren vorbei an geplünderten und ausgebrannten staatlichen Institutionen wie dem Ministerium für Bewässerung und dem Bildungsministerium. Intisar hält ihre Hände vor den Mund, als wir an einer Gruppe von Männern vorbeifahren, die gerade dabei sind, große Säcke mit Mehl und Zucker aufzuladen, die sie noch in einem staatlichen Lebensmittellager aufgetrieben haben. Ihr Lkw ist bereits voll mit allerlei anderem Diebesgut, das sie heute in der Stadt gefunden haben. Ein alter Kühlschrank, ein paar Teppiche und eine angerostete Klimaanlage. Drei amerikanische Militärjeeps fahren vorbei, ohne die Plünderer zu behelligen. Ungläubig blickt Intisar dem Jeep hinterher, bis sie an der nächsten nicht funktionierenden Ampel rechts abbiegen. Kurz darauf erscheint das Palestine Hotel, in dem die US-Armee und die ausländischen Journalisten ihr Quartier aufgeschlagen haben und das hunderte von Iraker auf der Suche nach Arbeit belagern.
Gegenüber auf dem Fardous-Platz steht der Sockel, auf dem bis vor neun Tagen noch Saddam Husseins Statue stand, bevor sie dank moderner Medientechnologie live vor den Augen aller Welt gestürzt wurde. Oder fast der ganzen Welt: Intisar und Zuhair saßen zu diesem Zeitpunkt ohne Elektrizität in ihrem Haus und lauschten im Radio den Berichten von dem, was in ihrer Stadt gerade geschah. Es sei schwer zu erklären, was in ihnen vorging, sagen beide. Zuhair versucht es trotzdem: „Saddam war wie ein Vater, der dich ständig schlägt und misshandelt, und dann kommt jemand und bringt ihn um.“
Intisar und Zuhairs Köpfe sind voll von Widersprüchen. Sie sind froh, Saddam Hussein losgeworden zu sein, und glücklich, dass der Krieg vorüber ist. Die Amerikaner bezeichnen sie als „Besatzer“, und ihre generelle Gefühlslage beschreiben sie als „traurig“. Intisar hat seit dem Kriegsbeginn ein Magenleiden. Auch mit der Ankunft der US-Soldaten in der Stadt „fressen im Stress ihre Verdauungssäfte ihren Magen auf“, wie sie es beschreibt. Die Araber hätten etwas, was man im Westen vielleicht nicht verstehen könne, und das sei Stolz, erklärt sie. „Als ich den ersten US-Soldaten auf der Straße hinter meinem Haus gesehen habe, habe ich geweint. Ich hätte gerne eine Waffe gehabt und ihn getötet, wenn ich gewusst hätte, wie. Einfach zu kapitulieren hat einen bitteren Geschmack.“ Nicht gerade die Worte einer glücklich Befreiten. Später entspinnt sich im Haus eine heftige Diskussion über die Frage, ob es für Bagdad nicht besser sei, dass es widerstandslos gefallen ist und damit ein Blutbad verhindert wurde. Die erste spontane Antwort von Zuhair und Intisar ist eindeutig: „Widerstand wäre besser gewesen.“ Doch dann kommen sie ins Grübeln. „Wir wären mit wehenden Fahnen untergegangen, und es wäre sinnlos gewesen. Die Leute wären für nichts gestorben, weil das Ergebnis von vornherein klar war“, sagt Zuhair. „Außerdem hätte das den Anschein erweckt, dass wir für das Regime und nicht für unser Land kämpfen.“
„Ich bin psychisch völlig fertig, und es ist schwer, einen klaren Gedanken zu fassen“, bricht Intisar die Diskussion ab. Über eines sind sich dann aber beide sofort wieder einig: Die Amerikaner sind in dieser Stadt nicht willkommen. Fünf Tage nach deren Einmarsch bezieht eine Gruppe von sieben US-Panzern in der Nähe ihres Hauses Position. Zuhair, der schon am Tag zuvor bei einer Fahrt durch die Stadt erstmals amerikanische Soldaten gesehen hat, nutzt die Chance, seiner Familie die neuen Herrscher der Stadt vorzuführen. Ein Panzerfahrer hat der kleinen Sama zugewinkt. Sie wollte zurückgrüßen. Aber ihre Mutter hat ihre Hand festgehalten und zu ihr gesagt, „Kein Hallo für unseren Feind.“ „Später“, reflektiert sie, „habe ich dann gedacht, dass diese jungen Soldaten doch selber noch Kinder sind, die keine Ahnung haben, warum sie in der Stadt sind.“
Kurz darauf traf Zuhair eine Gruppe von US-Marines. „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Offizier. „Seit Sie hier sind, nicht mehr“, antwortete Zuhair, der fließend Englisch spricht, dem verdutzten Offizier. So hat Abu Sarah den Marines-Captain Watt kennen gelernt. Eine Stunde lang haben sie dort auf der Straße diskutiert. Zuhair hat ihm gesagt, er sei Teil einer Besatzungsarmee und damit auch für seine Sicherheit und die seiner Familie zuständig. Watt antwortete, dass er kein Polizist sei. Zuhair argumentierte mit der Genfer Konvention. Was er tun könne, fragte Watt. Und Zuhair erklärte ihm, dass mit der Wiederherstellung der Stromversorgung schon die Hälfte des Problems mit den Plünderungen gelöst wäre. Außerdem solle die US-Armee die zehn Kanalbrücken überwachen, die in die nördlichen schiitischen Armenviertel führen, wohin ein Großteil des Diebesgutes abtransportiert wird. Watt fragte, ob Zuhair nicht mit den Marines zusammenarbeiten wolle, und streckte die Hand aus. „Ich habe ihm gesagt, dass ich keinem Besatzer die Hand schüttle. Aber dass er herzlich in mein Haus eingeladen sei, wenn er keine Uniform anhat“, erinnert sich Zuhair. Später habe er gedacht: „Mein Gott, hätte ich jemals so mit einem irakischen Geheimdienstoffizier gesprochen?“ Das Treffen und die Diskussion mit Captain Watts haben Zuhair im Umgang mit den Amerikanern Selbstvertrauen gegeben. Als am nächsten Tag eine Gruppe Marines die benachbarte Polizeistation durchsucht, und dort unter den Buhrufen der Nachbarschaft die irakische Fahne herunterholt, schlägt Zuhairs erste große Stunde im neuen Irak. Intisar versucht, ihn zurückzuhalten, aber er marschiert in die Polzeistation und fordert, dass die Fahne, die nichts mit dem alten Regime zu tun hat, sofort wieder hochgezogen wird. Er solle mit Captain Watts Kontakt aufnehmen, verlangte Zuhair von dem Offizier. Der kommt kurz darauf wieder und sagt: „Alles in Ordnung, Sir“, man werde die Fahne wieder hochziehen. Aber Zuhair verlangt, das persönlich zu tun, und zieht das rot-weiß-schwarze Banner mit den drei grünen Sternen unter dem Applaus der gesamten Nachbarschaft wieder hoch.
Seitdem fungiert Abu Sarah als eine Art Sprecher für die umliegenden Straßen. Im Moment geht es vor allem darum, den Stromgenerator der benachbarten Grundschule zu sichern. Mehrmals hatten bewaffnete Männer versucht, in die Schule einzudringen. Am sechsten Tag der amerikanischen Befreiung der Stadt erschien eine bewaffnete Bande von elf Männern mit einem Kran und einem Lkw, um den großen Generator abzuholen. Gerade als die Nachbarn diskutierten, ob man sich den Plünderern mit Waffengewalt entgegenstellen solle, kam eine Patrouille der Marines des Wegs. Jemand hatte sie von der Hauptstraße herbeigerufen. Einige Plünderer wurden festgenommen, aber später vor den Augen aller wieder freigelassen. Sie seien nicht auf frischer Tat ertappt worden, rechtfertigt der Offizier seinen Befehl. „Aber der Kran stand bereits in der Schule“, argumentiert Abu Sarah. „Ich frage ihn, was er denn machen würde, wenn jemand mit einer Waffe vor einer Bank in Los Angeles steht“, erinnert er sich. Der Kran sei schließlich keine Waffe, entgegnet der Offizier. Zuhairs Einwand, dass in diesem Fall genau der Kran die Waffe sei, will er nicht gelten lassen.
Später kommen einige Nachbarn und raten Zuhair dringend, mit den US-Soldaten vorsichtiger zu sein. Er könnte sonst womöglich für einen Vertreter des alten Regimes gehalten werde und Schwierigkeiten bekommen. Heute, sagt Zuhair, sei alles seitenverkehrt. „Früher haben die Iraker Saddam Hussein in der Öffentlichkeit gepriesen und im Privaten verflucht, heute machen sie das Gleiche mit den Amerikanern.“ Seine Frau stimmt zu: „Saddam hat uns die Angst gelehrt vor jedem, der stärker ist als wir. Dieser Saddam-Komplex funktioniert bei den Leuten heute mit den Amerikanern.“
Und dann kommt wieder die Verwirrung zutage. Wie soll man sich in diesen neuen Zeiten zurechtfinden? Stundenlang diskutieren wir am Küchentisch die Frage, welche positiven Möglichkeiten sich mit der neuen Besatzung ergeben. Abu Sarah, der gelernte Landwirtschaftsingenieur, der sich jahrelang über Wasser gehalten hat, indem er für palästinensische Zeitungen kulturhistorische Artikel schrieb, möchte sein Englisch mit Kursen im Britischen Kulturinstitut verbessern, das hoffentlich bald wieder aufmachen wird. Er könnte vielleicht auch demnächst Artikel in irakischen Medien veröffentlichen. „Am wichtigsten ist es, unsere eigene moderne Geschichte aufzuarbeiten. Da gibt es viel Nachholbedarf“, sagt er.
Die einstige englische Literaturstudentin Intisar, die früher als Sekretärin bei der DDR-Nachrichtenagentur ADN gearbeitet hat und heute bei der deutschen Hilfsorganisation „Architekten für Menschen in Not“ mitarbeitet, weiß noch nicht, wie es weitergeht. Auf jeden Fall hat sie in den vergangenen Monaten gelernt, mit einem Computer umzugehen. Zusammen mit ihrem exzellenten Englisch wird ihr das wohl gute Chancen in einem neuen Irak eröffnen. Zuhair freut sich auch auf ein neues, lebhaftes intellektuelles Leben in der Stadt. In Zukunft müssen er und seine Freunde sich nicht mehr heimlich Bücher und Zeitschriften besorgen und sich gegenseitig ausleihen, bis sie total zerfleddert sind. In Zuhairs Lieblingscafé, direkt am freitäglichen Büchermarkt, kann er in Zukunft offen über alles mit seinen Freunden diskutieren. Er hofft auch, dass viele irakische Intellektuelle aus dem Exil zurückkehren. „Leute, die frei denken können und die Saddam Hussein nicht im Gehirm implantiert haben.“ Noch wissen sie nicht, wie sie sich mit der neuen Besatzung arrangieren können und wollen. Es ist wie in den Zwanzigerjahren während der britischen Kolonialialzeit, sagt Abu Sarah. Manche haben mit den Briten zusammengearbeitet, weil sie darin die einzige Möglichkeit sahen, ihr Land zu entwickeln. Andere haben dies aus purem Opportunismus getan. „Auch diesmal werden wir beide Typen finden“, meint er. Der 50-jährige Zuhair und die 44-jährige Intisar glauben aber, dass das eher eine Frage für die nächste Generation sei. „Wir sind durch den achtjährigen Krieg mit dem Iran, den Einmarsch in Kuwait, die zwölf Jahre UN-Sanktionen und den letzten Krieg müde geworden“, sagt Intisar.
Doch ihre beiden Töchter haben noch gar nicht begriffen, welche neuen Zeiten angebrochen sind. Sie haben ihre Straße seit drei Wochen nicht verlassen. Und auch der Fernseher ist seit zwei Wochen tot. Sarah würde gerne wieder in ihre Schule gehen, die sie seit Kriegsbeginn nicht mehr besucht hat. Doch ihre Mutter hat ihr das bisher untersagt. „Es wäre zu dramatisch“, erklärt sie. Andere Eltern haben ihr erzählt, dass die Schule ihrer Töchter vollkommen ausgeplündert wurde. Es gibt dort keinen einzigen Stuhl oder Tisch mehr, und selbst die Tafeln sollen sie abgeschraubt haben. Diesen Anblick will Intisar ihren Töchtern ersparen.
Zu Hause hatten Zuhair und Intisar immer nur über Politik geredet, ohne den Namen Saddam Husseins zu erwähnen. Und wenn das Gespräch zum Regime kritisch wurde, haben sie es in Englisch weitergeführt, aus Angst, die Kinder könnten ihre eigenen Eltern aus Versehen anschwärzen – wie jenes Kind, das bei einem Besuch Saddam Husseins in dessen Schule offen erzählt hatte, dass sein Vater immer den Fernseher ausschaltet, wenn der Präsident erscheint. Niemand weiß genau, was damals mit dem Mann passiert ist.
Nun haben Zuhair und Intisar zwei gehirngewaschene Töchter zu Hause. Vor allem Sarah weigert sich, zu verstehen, dass Saddam Hussein nicht mehr ist. „Wir lieben unseren Führer, weil er die Kinder liebt“, rezitiert sie einen in der Schule gelernten Slogan. Ich male Saddam Hussein mit einem komischen Gesicht und einer krummen Nase auf ein Blatt Papier. „Das darfst du nicht mit Onkel Saddam machen“, reagiert Sarah erbost. „Wir haben schon versucht, mit ihr zu sprechen. Sie wird es nicht glauben, bis sie es von ihren eigenen Lehrern hört oder im Fernsehen sieht“, meint ihre Mutter.
Sama ist da schon etwas gelassener, sie hat gerade einmal weniger als zwei Schuljahre in Saddams Propagandamaschine verbracht. „Was machst du jetzt ohne Saddam Hussein?“, frage ich sie. „Nichts“, antwortet sie und zuckt mit den Schultern. „Soll ich jetzt vielleicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen?“