: Eine Revolution im Denken
Chinas Regime steht vor einem Scherbenhaufen: Die Regierung ist mit SARS überfordert – und muss ihre Bürger zu Eigenverantwortung aufrufen
aus Peking GEORG BLUME
Die Frage lautete: „Sind Reisen in China heute sicher?“
Daraufhin der Minister: „Ich behaupte weder, dass China das sicherste Land der Welt ist, noch dass China jetzt ein gefährlicher Ort ist. In dieser Frage muss jeder Einzelne für sich entscheiden.“
Es war die erstaunlichste Antwort in der erstaunlichsten Pressekonferenz, die Peking in 54 Jahren kommunistischer Herrschaft je erlebte. Nicht nur dass ein Minister erstmals öffentlich amtliche Selbstkritik inmitten einer unbewältigenden gesellschaftlichen Krise übte. Nun forderte er auch noch die 1,3 Milliarden Bürger des Landes zu eigenen Entscheidungen auf: ein Bruch mit der politischen Kultur.
Von den Kaisern über Generalissimo Tschiang Kai-chek bis zu Mao Tse-tung, Deng Xiaoping und Jiang Zemin hatten es die Regenten Chinas stets vermieden, Entscheidungen in die Hand des Volkes zu legen. Nun aber sollen 90 Millionen Chinesen, die im vergangenen Jahr zum Maifeiertag Reisen unternahmen, selbst bestimmen, ob sie nach dem Ausbruch der Viruskrankheit SARS (schweres aktives respiratorisches Syndrom) noch durch ihr Land reisen wollen. Die Regierung spricht weder ein Reiseverbot noch eine Reiseempfehlung aus. Obwohl sich viele Chinesen bereits fragen, ob es in SARS-Zeiten noch sicher ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen. Für den mündigen europäischen Citoyen mag so viel Eigenverantwortlichkeit auch inmitten einer Krise selbstverständlich sein. Für das wachsende chinesische Bürgertum beinhaltet sie eine Revolution im Denken.
Völlig unerwartet steht das Pekinger Regime vor einem Scherbenhaufen. Vor wenigen Tagen wurde das höchste Wirtschaftswachstum seit sechs Jahren verkündet: aufs Jahr angeglichene 9,9 Prozent im ersten Quartal 2003. Doch wie ausgelöscht erscheinen die wirtschaftlichen Erfolge durch die Dramatik der Viruskrise. Jeder SARS-Tote wiegt in diesen Tagen politisch so viel wie eine Milliarde Yuan getätigte Investitionen. Gao Qiang, der stellvertretende Gesundheitsminister aber, der am Sonntag die besagte Pressekonferenz hielt, musste allein für Peking eine Verzehnfachung der SARS-Fälle auf 339 und eine Verfünffachung der Todesfälle auf 20 einräumen. Zuvor hatte Gesundheitsminister Zhang Wenkang offenbar gelogen – und wurde noch am gleichen Tag zusammen mit Pekings Bürgermeister Meng Xuenong seiner Parteiämter enthoben.
Damit eskalisierte die medizinische zur politischen Krise: Seit der Stundentenrevolte vor 14 Jahren, die die Absetzung des damaligen KP-Generalsekretärs Zhao Ziyang erzwang, wurden in Peking nicht mehr so hohe Parteifunktionäre aufgrund ihres Versagens aus den Ämtern entfernt wie an diesem Wochenende.
Eine Reihe von Faktoren zwang die erst Anfang März umgebildete Regierung um den neuen Partei- und Staatschef Hu Jintao und seinen Premier Wen Jiabao zum Handeln: Der wichtigste war ausländischer Druck. Erst letzten Mittwoch hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Zahl der SARS-Fälle in Peking auf „100 bis 200“ geschätzt und erstmals offiziellen Angaben offen widersprochen. Zugleich wurden über den Einbruch des Tourismus hinaus gravierende Folgen für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit sichtbar: Der japanische Autoriese Nissan verschob die Gründung eines neuen Joint Ventures; als erster ausländischer Großkonzern befahl Matsushita dem Großteil seiner Angestellten in China, das Land zu verlassen. Zuvor hatte der amerikanische Gesundheitsminister Tommy Thompson erklärt, Chinas verspätete Information über SARS habe Menschenleben gekostet.
Genau dieses Versäumnis will Peking nach den Worten Gaos jetzt wieder gutmachen: „Das Leben und die Gesundheit der Menschen müssen über allem anderen stehen. Wir werden dafür ausgeben, was erforderlich ist“, kommentierte der designierte Nachfolger Zhangs als Gesundheitsminister die Frage nach den wirtschaftlichen und finanziellen Kosten von SARS. Doch ob die Chinesen diesem Versprechen trauen, ist völlig offen. Einerseits haben Hu und Wen ihr politisches Kapital noch nicht verspielt, andererseits wächst der Unmut über die skandalöse Vertuschung der SARS-Ausbreitung von Tag zu Tag. Zudem entscheidet auch der unvorhersehbare Verlauf der Krankheit darüber, ob Peking am Wochenende den Anfang oder das Ende seiner größten politschen Krise seit über einem Jahrzehnt erlebte.