Er brüllt zurück

Dieses Gefühl von Hysterie: Oskar Roehlers Spielfilm „Der alte Affe Angst“ schaut den Figuren zu, wie sie aus sich herauskommen und sich gehen lassen, treibt aber zugleich ein falsches Spiel mit ihnen

von ANDREAS BUSCHE

Wie viel Verständnis will man für Menschen aufbringen, die freiwillig in einer solchen Wohnung leben? Es wundert nicht, dass sie genauso aussieht wie die Beziehung der Menschen, die sie bewohnen. Offen bleibt in Oskar Roehlers neuem Film „Der alte Affe Angst“ lediglich, in welche Richtung die Wechselwirkung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit dieser Lebenswelt funktioniert. Was war zuerst da: die kaputte Beziehung oder dieser Albtraum von Wohnung? Das Riesenloft über den Dächern von Berlin-Mitte, in dem Robert (André Hennicke) und Marie (Marie Bäumer), er Theaterregisseur, sie Kinderärztin, ihre Beziehung behaupten, scheint mehr Symptom als Ausdruck von Persönlichkeit zu sein. Die Wände sind in Rosa, Blau und Gelb aufeinander abgestimmt, die Räume kaum eingerichtet und die meiste Zeit vom fahlen Schein der Neonreklamen und nächtlichen Spiegelungen kühl ausgeleuchtet.

Roehler legt in „Der alte Affe Angst“ Wert auf Interieurs und kleine Accessoires, um von den verkorksten Sozialisationen seiner beiden Figuren zu erzählen. Seinen Versuchen, die Symptomatik dieser Störung an einer diffusen Divergenz von materieller Welt und emotionalen Bedürfnissen festzumachen, haftet dabei immer etwas leicht Zwanghaftes an: Zum Beispiel ist Maries Auto, ein pinkes Sport-Cabrio, in seiner ausgestellten Lächerlichkeit zunächst eine lässige Referenz an das Rock-'n'-Roll-Kino Hollywoods (von „Wild at Heart“ bis „True Romance“). Mit dem Fortschreiten des Filmes wirkt das Gefährt allmählich wie der Hilferuf eines kleinen, zutiefst verunsicherten Mädchens.

Robert hat in seiner Beziehung mit Marie ein Problem, das Roehler uns nicht lange vorenthält: Wie bringe ich meine Liebe mit meinem Begehren in Einklang? Eine Exposition braucht dieser Zustand nicht. Roehler schmeißt den Zuschauer mitten hinein in das Gefühlschaos, in einen grandiosen Ausbruch angestauter Emotionen. Weil deutsche Filme die Konflikte ihrer Figuren so selten ernst nehmen, hat man dies lange vermisst: dass Menschen aus sich herauskommen, sich hemmungslos gehen lassen, Bedürfnisse äußern, auch um den Preis, verletzt zu werden.

Das erste Duell zwischen Robert und Marie beeindruckt, weil nichts zurückgehalten, keine Selbstkontrolle mehr aufrechterhalten werden muss. Sie (hysterisch): „Ich halt das nicht mehr aus, ich kann so nicht mehr weitermachen.“ – Er (brüllt zurück): „Und dass ich es all die Jahre mit dir ausgehalten habe, obwohl ich dich nicht mehr begehre, weißt du das überhaupt nicht zu würdigen?“

Dieses Gefühl von Hysterie und nackter Angst durchzieht „Der alte Affe Angst“ auf allen Ebenen. Doch zu der peinigenden Offenheit der Eröffnungsszene findet Roehler nur selten wieder zurück. Der Film wird unwiderstehlich, wenn er seinen Figuren eine Verletzlichkeit zugesteht, die sich in einfachste Worte kleiden lässt. „Ich hab dir mein Leben geschenkt“, sagt Marie an so einer Stelle. „Was hast du nur mit uns gemacht?“

Diese lähmende Angst ist im Film allgegenwärtig. Irgendwann platzt sie aus jedem einmal heraus. Am unmittelbarsten aus Roberts Vater (Vadim Glowna), bei dem der Arzt Krebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert hat. „Ich habe eine solche Scheißangst!“, schreit er in die Kamera. Wahrscheinlich wären hier die grünstichigen, körnigen DV-Bilder gar nicht mehr nötig gewesen.

Doch die Angst bleibt Manierismus, und das ist Roehler anzukreiden. Mit dem Theaterstück zum Beispiel, an dem Robert im Film arbeitet, muss Roehler eine weitere Erzählebene einfügen. Als hätte man es nicht längst verstanden, müssen bleich geschminkte Schauspieler mantra-artig ihre Entfremdung formulieren: „Die Wirklichkeit entspricht nicht mehr unseren Idealen. Wir haben Angst!“ Roehlers Film ist laut, und je länger die Menschen in ihm brüllen, desto weniger will man ihnen Recht geben.

Nicht nur im Titel erinnert „Der alte Affe Angst“ an Fassbinder, auch in der Verbindlichkeit seiner Inszenierung orientiert sich Roehler am klaustrophobischen Kammerkino: dieses Panische, das Pathos, die überwältigende Verzweiflung. Immer wieder stehen Robert und Marie vor ihrem Panoramafenster und blicken in die Leere der Nacht, ohne dort Erhabenheit zu finden. Aber Roehlers Projektionen treiben auch ein falsches Spiel mit den Figuren, insbesondere mit Marie, die längst zum Spielball einer rein patriarchischen Begehrensökonomie, dieser „elenden Triebscheiße“, geworden ist. Leider versucht Roehler nicht, mit dem Dilemma, Liebe zu empfinden, ohne zu lieben, ein bestimmtes Lebenskonzept in Frage zu stellen. Seine Skepsis ist größer, sie gilt gleich einer ganzen, nämlich seiner eigenen Generation.

Das Problem in „Der alte Affe Angst“ ist nicht die Welt, in der die Menschen leben, die spätkapitalistische Gesellschaft. Das Problem sind diese Menschen selbst, mit ihren gescheiterten Wohlstandssozialisationen, ihren viel zu großen Wohneinheiten mit Blick über die Stadt. Irgendwann wird das Geschrei um die Unmöglichkeit von Liebe, um Tod, Aids, Vaterkomplexe und Lebensängste abstoßend. Ein Zyniker, wer in diesem verquasten Modell ein Plädoyer für aufrichtige und bedingungslose Liebe erkannt haben will.

„Der alte Affe Angst“. Regie: Oskar Roehler. Mit André Hennicke, Marie Bäumer, Vadim Glowna u. a., Deutschland 2002, 92 Minuten