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Archiv-Artikel

Aufbruch in die Vergangenheit

aus Kerbela KARIM EL-GAWHARY

„Das ist mein persönlicher Triumph, mit dem ich den Sieg über Saddam Hussein feiere“, sagt der alte Schiit Jussuf Obeid, während seine Frau lächelt. Das zerbrechliche Pärchen wird von seinem Sohn auf einem Handkarren einmal um den Schrein des Imam Hussein in der südirakischen Stadt Kerbela geschoben. Drei Tage lang waren sie von Nadschaf aus unterwegs, um erstmals seit einem Vierteljahrhundert der Herrschaft Saddam Husseins die Wallfahrt nach Kerbela frei und offen zu begehen.

„Ich bin einfach nur glücklich, das erleben zu dürfen“, beschreibt Jussuf seine Gefühle. Eigentlich sollte er traurig sein. Das Fest der Arbain (Fest der 40) der Schiiten ist ein Traueranlass. Vor 1.323 Jahren wurde ihr Imam Hussein bei der Schlacht um Kerbela ermordet, und seitdem beweinen ihn die Schiiten weltweit am Aschura-Fest zu seinem Todestag und 40 Tage danach. Es ist eine Art schiitischer Karfreitag.

„Saddam ist weg, Hussein lebt“

Hunderttausende haben sich in den letzten Tagen auf die Pilgerfahrt nach Kerbela gemacht, um den Schrein einmal zu umschreiten. Keiner kann sie zählen. Sie kommen aus dem ganzen Land, sind entweder in Gruppen barfuß, auf der Ladefläche großer Lastwagen in glühender Hitze, auf einem Eselskarren oder Pferd unterwegs, stets mit den bunten Fahnen ihrer Clans. Wer Glück hat, ist in einem Bus oder einem Auto nach Kerbela gekommen.

Diszipliniert ziehen sie die Menschen in Gruppen durch die Stadt in Richtung der Grabstätte Husseins. Und schlagen sich dabei rhythmisch auf die Brust, um ihrem Schmerz über den Tod des Imam Ausdruck zu verleihen. Je näher sie dem Schrein kommen, umso lauter wird das dumpfe, gleichmäßige Schlagen. Einige weniger Fanatiker haben sich sogar gegeißelt und laufen mit blutüberströmten Hemden um Husseins Grab, verfolgt von den Kameras ausländischer Fernsehteams, die endlich die Bilder bekommen, um den Geist des fanatischen islamischen Staats aus der Flasche zu holen. Tatsache ist, es fließt nur wenig Blut, zumal die Hawza, das religiöse Führungskomitee der Schiiten im Irak, die Gläubigen dazu aufgerufen hat, sich nicht blutig zu geißeln, sondern es beim symbolischen Schmerz zu belassen.

„Saddam ist weg, aber Hussein lebt“, heißt es auf einem Banner am Eingang der Stadt. Früher haben sich nur wenige aus Anlass des Arbain-Fests nach Kerbela getraut. Auf den Zufahrtstraßen wurden viele Schiiten von Saddams Schergen zurückgewiesen. Wer es dennoch geschafft hatte, in die Stadt zu kommen, wurde von Saddams bewaffneten Geheimdienstleuten vom Dach des Schreins aus argwöhnisch beobachtet. „Es war ein Albtraum, und die Leute hatten Angst, zu kommen“, erzählt Ali Ahmed, ein Händler aus Kerbela. Das Sich-auf-die-Brust-Schlagen war verpönt. „Es gab Sanitäter, die so taten, als wollten sie jene, die von der Wallfahrt und dem Sich-auf-die Brust-Schlagen erschöpft waren, ins Krankenhaus bringen. In Wirklichkeit fuhren sie direkt ins Gefängnis.“

Als ich mit Block und Stift vor dem Schrein stehe, werde ich von Pilgern umringt. Jeder möchte im neuen Irak seine Geschichte oder seine Meinung loswerden. Erstmals kann auch offen mit Ausländern gesprochen werden. Alle sagen, dies sei ein großartiger Tag, an dem sie endlich wieder religiöse Freiheit genießen.

Das Verhältnis zu den amerikanischen „Befreiern“ indes ist höchst gespannt. Der Händler Ali stellt seine eigene Rechnung auf: „Die Amerikaner nehmen das Öl weg, haben aber die Freiheit mitgebracht. Saddam Hussein hat uns früher beides genommen.“ Er hoffe, dass die Amerikaner für Stabilität sorgen, aber spätestens nach vier Monaten sollten sie verschwinden, sagt Nafa Jussuf, der drei Tage lang aus dem 120 Kilometer entfernten Diwanjia unterwegs war. „Wenn die Amerikaner hart genug arbeiten, können die das schaffen.“ Immer wieder heißt es, dass man lange genug nicht gefragt wurde, von wem man regiert werden wolle, und dass man sich dieses Recht diesmal nicht von den Amerikanern nehmen lassen werde. „Bush ist eine Friedenstaube“, schreit dagegen jemand anders dazwischen. Das sieht Ahmed Khadem Suleiman allerdings ganz anders. Er ist mit dem Bus aus Basra gekommen und wurde bei einer US-Straßensperre angehalten. „Die wollten sogar unsere Frauen durchsuchen und abtasten“, erzählt er empört. Es kam zu einem kleinen Aufstand an der Straßensperre. Am Ende rettete ein besonnener US-Soldat die Situation, ließ die Frauen einsteigen und nur die Männer durchsuchen. Hätte er das nicht getan, für Ahmed hätte sein persönlicher Dschihad an diesem Tag begonnen.

Plötzlich drängt eine Frau durch die Männermenge. In der Hand hält sie ein Poster mit dem Bild ihrer Schwester, die vor 20 Jahren wegen Mitgliedschaft in der schiitischen Oppositionsgruppe Hizbin-Dawa exekutiert wurde. Sie selbst bekam „lebenslänglich“, war dann acht Jahre lang in Saddams Gefängnissen verschwunden und lebte bis vor kurzem unter Hausarrest. Das erste Mal erzählt die 42-jährige Sundus Abbas Schaukat aus Bagdad ihre Geschichte der Öffentlichkeit: wie sie mit 20 Jahren verhaftet wurde, mit Elektroschocks, Schlägen, monatelangem Handschellentragen gequält wurde. Zwischendrin bricht ihre Stimme. Und dann fährt sie fort mit den Schicksalen weiblicher Mitgefangener, die von ihren männlichen Folterern ausgezogen wurden und am Ende für immer verschwanden. Immer wieder sei auch ihr selbst mit Vergewaltigung gedroht worden, erzählt die Frau, deren schwarzer Umhang nur ihr Gesicht frei lässt, über das die Tränen fließen. Über 20 Jahre ihres Lebens habe sie verloren. „Meine Jugend ist weg, ich habe keinen Ehemann. Und ich werde niemals Kinder haben“, ist ihre Schreckensvision.

Der neue Pluralismus

Heute, sagt Sundus, „feiere ich mit dieser Wallfahrt meinen Sieg über Saddam Hussein“. Die Wallfahrt sei Teil ihrer Post-Saddam-Therapie. „Ich fühle mich wie unser Imam Hussein, der ermordet wurde und der niemand hatte, der ihm zur Hilfe kam.“ Sundus Abbas Schaukat hat aufgehört zu weinen, wirkt fast erlöst, ihre Geschichte losgeworden zu sein, und verschwindet wieder in der Menge, in der hunderte Pilger ähnliche Geschichten zu erzählen haben.

Ein wenig vom Schrein entfernt verkauft Sayyid Ahmed Khader schiitische Gebetssteine und Gebetsketten in allen Formen und Größen. Eines haben sie gemeinsam: Sie sind aus getrocknetem Lehm, der in Kerbela rund um Husseins Schrein gesammelt wird. Von diesen „Tubas Hussainja“ soll eine besondere Wirkung ausgehen. Sie bringen Glück, und die damit vollzogenen Gebete werden bevorzugt erhört. Sayyid hat keine Sorge, Kerbela könnte irgendwann einmal der Lehm ausgehen. „Da müsste schon die ganze Welt schiitisch werden und hier einkaufen“, witzelt er. Im Moment kauft eigentlich niemand seine Wallfahrtssouvenirs, weil die Menschen ihre Löhne nicht ausgezahlt bekommen haben. Aber Sayyid ist optimistisch, dass das in Zukunft alles besser wird, so Gott will. Mit dem Ende Saddam Husseins werde es für Schiiten auch aus Ländern wie Pakistan und Iran wieder einfacher, nach Kerbela zu pilgern.

In Sayyids Laden sitzt eine Gruppe Männer und debattiert hitzig über die politische Zukunft. „Über die Vergangenheit nur so viel“, merkt Sayyid an: „Es gibt in ganz Kerbela keine einzige Familie, die nicht jemanden in den Kriegen und den Kerkern Saddam Husseins verloren hat.“ Der Händler wünscht sich einen schiitischen Staat nach iranischem Muster. Ein solches Projekt würde Erfolg haben, weil es auf Gerechtigkeit aufgebaut wäre, meint er. Auch der Ingenieur Weyar al-Hakim bevorzugt einen islamischen Staat mit dem Koran als Verfassung, der aber von einem moderaten Präsidenten geführt werden müsste. Lkw-Fahrer Ali Ahmed Khader widerspricht vehement. Die Religion sei jedermanns persönliche Angelegenheit und der Staat gehöre allen, ob Schiiten, Sunniten, Christen oder Kurden. Würde ein Parlament von allen gewählt, könnte es auch alle vertreten. Das wäre dann seine politische Autorität, nicht irgendwelche schiitischen Kleriker, die die Einheit des Staats zerstören.

Die Diskussion geht über Stunden weiter, und jeder genießt es ganz offensichtlich, endlich mit jedem offen über alles reden zu können. Das ist der neue Wallfahrtspluralismus, der für die meisten mindestens ein ebenso großartiges Erlebnis ist, wie erstmals öffentlich sich auf die Brust schlagend um den Schrein des Imam Hussein zu ziehen. Wenngleich sich in manchen Äußerungen vielleicht das Ende des irakischen Pluralismus ankündigt. Früher stand dort überall das obligate, mit Schablone gepinselte „Ja-Ja-Ja“ zu unserem Führer Saddam“. Für die neuen Zeiten wurden nur zwei Worte übertüncht und neu gepinselt. Jetzt heißt es schlicht: „Ja-Ja-Ja zu unserem Imam Hussein.“