Schnapp den Tot ä tot e ror!

Dass Ottokar Trebitsch etwas auf dem Kerbholz hatte, war klar wie Kloßbrühe. Warum sonst hätte er den verdächtigen Zettel zerfetzt? Martin Schlosser nimmt die Ermittlungen auf

VON GERHARD HENSCHEL

Am ersten Herbstferientag war ich mit Michael Gerlach im Wambachtal gewesen und ging nichtsahnend nach Hause, als ich in der Theodor-Heuss-Straße einen Mann sah, der ein Papier zerriss und die Fetzen hinter sich warf, was mir äußerst verdächtig vorkam.

Ich wartete mit dem Aufsammeln, bis er weg war. In meinem Zimmer machte ich mich ans Puzzeln und klebte die Fetzen in der richtigen Anordnung mit Pattex auf ein Ringbuchblatt, aber ich wurde nicht schlau daraus: 0195667, Spargiro, Durchschrift für Auftraggeber, Empfänger Eduard Althoff, Bankleitzahl, Konto-Nr. des Empfängers 4713, bei (Sparkasse usw.) oder ein anderes Konto des Empfängers, Stadtsparkasse Hameln, Verwendungszweck Dritte Tilgungsrate, DM 300, Konto-Nr. des Auftraggebers 2153, Auftraggeber O. Trebitsch, 5414 Vallendar, Kaiser-Friedrich-Höhe, 15. 10. 73, Ottokar Trebitsch.

Was es damit auf sich hatte, stand vorläufig noch in den Sternen, aber es war zu vermuten, dass dieser Trebitsch ein krummes Ding gedreht hatte und jetzt versuchte, die Beweismittel zu vernichten, indem er sie zerfetzt auf die Straße schmiss, weil er nicht daran dachte, dass es auf dem Mallendarer Berg einen Detektiv gab, der schwer auf dem Quivive war. Der Trebitsch konnte die Polizei an der Nase herumführen, aber nicht mich.

Ottokar Trebitsch. Der war genau meine Kragenweite. Ein Bankräuber wie Rammelmayr oder ein Gewohnheitsverbrecher und Raubmörder oder beides, bösartiger als Onkel Einar, Al Capone und Käpt’n Flint zusammengenommen. Haute alte Omas übers Ohr, war für eine Serie von Einbruchdiebstählen verantwortlich oder hatte hinterrücks Geld von einem Kind gestohlen wie der fiese Möpp in Emil und die Detektive.

Irgendwas musste der Trebitsch ja wohl auf dem Kerbholz haben, sonst hätte er das Papier nicht zerrissen. Dass er sein Hauptquartier in der Kaiser- Friedrich-Höhe aufgeschlagen hatte, wunderte mich nicht. Da wohnte ja auch der Ventilmops.

Ich zeigte Michael Gerlach die Indizien, die den Trebitsch belasteten, und wir unternahmen Patrouillengänge durch die Kaiser-Friedrich-Höhe. Über das Telefonbuch hatte ich auch die Hausnummer ausgetüftelt. Der Trebitsch wohnte in einem hundsgewöhnlichen Haus mit Heckenrosen als Tarnung.

Gerne hätte ich mal einen genaueren Blick auf das Anwesen geworfen, aber wir konnten ja nicht gut Zahlenstangen in die Erde stecken wie die Kripo und Fotos schießen, nur weil wir den Verdacht hatten, dass der Trebitsch in dunkle Machenschaften verwickelt war und im Keller Kinderleichen stapelte.

Mir kam dann die glorreiche Idee, in der ganzen Straße Ausgaben von Renates Schülerzeitung zu verteilen, Haus für Haus, Michael auf der linken Seite und ich auf der rechten, wo der Trebitsch wohnte.

Spectrum nannte sich die Schülerzeitung. Renate hatte einen Riesenstapel davon im Kleiderschrank. Auf der Titelseite war eine Zeichnung von einem feixenden Lehrer, der eine Schülermarionette in der Hand hält. Ich schob eine Schülerzeitung durch Trebitschs Briefschlitz und spähte ins Haus, aber nur kurz.

Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Es war nicht ausgeschlossen, dass der gerissene Hund da schon lauerte, mit der Knarre im Anschlag, um mir das Lebenslicht auszublasen. Ich sah einen Schirmständer und nahm Kohlgeruch wahr. Das konnte aber auch eine Finte sein, und der Trebitsch war schon über alle Berge und lebte irgendwo wie Gott in Frankreich von seinen zusammengeräuberten Millionen und lachte sich ins Fäustchen.

Wir hielten Kriegsrat. Zu den Bullen gehen? Die würden uns was husten. Und wenn wir denen das Papier zeigten, das der Trebitsch klein gerissen hatte, würde er sich irgendeine Ausrede aus den Fingern saugen.

Im Gewa in Koblenz hätte ich den Wisch fotokopieren können, aber da kostete jede Fotokopie fünf Mark.

Eine harte Nuss, der Fall Trebitsch. Da musste man auf Draht sein. Aber irgendwann, das schwor ich mir, würde ich das Verbrechernest ausräuchern, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, und ich würde ein Denkmal kriegen, so groß wie das größte von Erasmus Erpel in Entenhausen. Der Junge, der den gefährlichsten Gangster aller Zeiten hinter schwedische Gardinen gebracht hat. Der Trebitsch in Unterhose, auf offener Straße, wie die Typen von der Baader-Meinhof-Bande, und wie ich den dann der Polizei übergebe. Im Fernsehen übertragen, mit Eurovisionshymne. Da würde den Leuten die Spucke wegbleiben. „Du kriegst die Motten“, würden alle Kidnapper und Heiratsschwindler stöhnen, und in der Unterwelt würde das große Heulen und Zähneklappern ausbrechen, wenn einer meinen Namen erwähnte.

Oder juckte das den Trebitsch überhaupt nicht, wenn er ins Gefängnis musste, und der saß die paar Jahre auf einer halben Backe ab und rächte sich dann an mir, so wie es der Indianer-Joe mit der Witwe Douglas vorgehabt hatte? Nasenflügel aufschlitzen und die Ohren einkerben?

Ich musste dem Burschen halt was anhängen, wofür er lebenslänglich eingebuchtet wurde. Ich war nur noch nicht auf den richtigen Trichter gekommen.

Michael und ich spazierten oft an Trebitschs Haus vorbei, aber da gab es nie was zu beobachten, bis wir den Trebitsch einmal fett im Garten stehen und die Rosen wässern sahen. Mit dem Trebitsch unterhielten sich über den Zaun hin weg zwei alte Opas. Spitzkumpane von dem, die ins Kittchen gehörten, das war uns auf den ersten Blick klar wie Kloßbrühe, und als die Opas gingen, nahmen wir die Verfolgung auf. Die Jahnstraße hinunter. An einem Zigarettenautomaten blieben die Opas stehen.

Um nicht aufzufallen, schlugen wir einen kleinen Umweg ein, aber danach fanden wir Trebitschs Komplizen nicht mehr wieder. Die hatten uns vernatzt und abgehängt.

Die Personenbeschreibung sei wichtig, sagte Michael. Der eine der beiden Opas habe eine Brille mit Goldrand getragen, und der andere sei untersetzt gewesen. Untersetzt. Und er habe Geheimratsecken gehabt. Und grau meliertes Haar.

Was hätte Kalle Blomquist unternommen, um diesen Spießgesellen ihre Suppe zu versalzen? So einfach wollten wir die nicht davonkommen lassen. Wir gingen zu dem Zigarettenautomaten und untersuchten den auf Gaunerzinken. Die Typen waren ja mit allen Wassern gewaschen.

Auf einem Schild stand die Adresse des Automatenbesitzers. Das war ein Vallendarer Tabakhändler, ein gewisser Kleiber, und mir ging ein Kronleuchter auf: Der Tabakfritze steckte auch mit drin. Das war ein Kompagnon von denen. Vorne ganz seriös Pfeifenreiniger und Glimmstengel verkloppen und im Hinterzimmer Falschgeld drucken oder Leichen zersägen. Diesen Kleiber müsste man sich mal vorknöpfen.

Aber wie sollten wir zwei Milchgesichter uns da Zutritt verschaffen? „Wenn wir den fragen, was ihm der Name Trebitsch sagt, lügt er uns ja doch nur das Blaue vom Himmel runter, und dann bringt er uns um die Ecke“, sagte Michael.

Andererseits führte die einzige heiße Spur in den Tabakladen. Eine verzwickte Lage. Da hätte es mal schlaue Bücher drüber geben sollen. Eine Geheimsprache lernen, wie in Kalle Blomquist: „Dod a sos i sos tot dod e ror Tot ä tot e ror“, „das ist der Täter“, oder Fangfragen stellen, sodass der Kleiber sich um Kopf und Kragen redet, und dann schnell die Polizei rufen, bevor er kalte Füße kriegt und abhaut.

Unseren Besuch in dem Tabakladen mussten wir von langer Hand vorbereiten. Nicht dass wir da noch in Schwulitäten kamen.

Wir einigten uns darauf, zu sagen, dass wir Brüder seien, die ihrem Vater zum Geburtstag eine Pfeife schenken wollten. Dann musste man ja ins Gespräch kommen, und dabei wollten wir dem Kleiber auf den Zahn fühlen.

„Man hat schon Pferde kotzen sehen“, sagte Michael.

Der Laden war leer. Hinterm Tresen stand ein dicker Mann, die Fäuste auf den Ladentisch gestemmt. Der Kleiber persönlich.

„Guten Tag“, sagte ich. „Wir sind Brüder, und wir wollen unserem Vater zum Geburtstag eine Pfeife kaufen.“

Der Kleiber kuckte uns an, als ob wir sie nicht mehr alle hätten. Eigentlich sahen wir ja nicht aus wie Brüder. Michael mit seinem blonden Wuschelkopf und ich mit meinen dunklen Haaren, die eben erst angefangen hatten, über die Ohren zu wachsen.

Welche Art Pfeife unser Vater denn bevorzuge, wollte der Kleiber wissen, aber darauf fiel weder Michael noch mir eine Antwort ein.

„Pfeifen kann man nicht mehr umtauschen, wenn man sie einmal benutzt hat“, sagte der Kleiber, und er trug uns auf, die vorhandenen Pfeifen unseres Vaters einer genauen Inspektion zu unterziehen und dann wiederzukommen. Wir stahlen uns davon.

Wie bei Kalle Blomquist war das ganz und gar nicht gewesen, eher wie im Mainzelmännchen-Minikrimi. Aber irgendwas ging da nicht mit rechten Dingen zu, das sagte mir mein sechster Sinn. Der Kleiber hatte Dreck am Stecken. Interpol einschalten? Scotland Yard und das FBI? Hallo, hier spricht Spezialdetektiv Martin Schlosser?

Nach Indizien suchte ich überall, auch in den verwaisten Gastarbeiterbaracken oberhalb der Gartenstadt.

Ich stieg durch ein Fensterloch ein. Auf dem Boden lagen ausländische Zeitschriften rum und angegammelte Postkarten. Caro Paolo, tutti noi siamo felice di leggere che stai in buona salute. Wenn der Trebitsch eine internationale Verschwörung angezettelt hatte, konnte jede einzelne Karte wichtig sein. Erpressung oder Diamentenschmuggel. Und die Polizei war am Pennen, wie gewöhnlich.

Leider waren die meisten Postkarten schimmelig. Ich hätte auch nicht gewusst, wohin damit, und wer sollte die übersetzen? Plötzlich rüttelte jemand an der Türklinke. Ich hielt den Atem an und stand stocksteif an der Wand. Es wurde weiter an der Klinke gerüttelt. Jetzt kommt das dicke Ende, dachte ich, und der Trebitsch macht mich alle, aber als ich lange genug dagestanden hatte, kehrte wieder Ruhe ein, und ich lief nach Hause.

Vielleicht hatte der Trebitsch ja auch einfach nur seine Frau gekillt. Einen ganzen Nachmittag lang suchten Michael Gerlach und ich den Friedhof in Vallendar nach Grabsteinen mit dem Familiennamen Trebitsch ab. Das war eine schweißtreibende Angelegenheit. Welcher Idi hatte sich bloß einfallen lassen, den Friedhof am Hang anzulegen, mit einer Milliarde Treppenstufen?

Wir fanden keinen einzigen Trebitsch auf dem ganzen gottverfluchten Friedhof, und als ich aus einem Wasserhahn was trinken wollte, schnauzte mich eine Oma an. Als ob ich der ihr Blumenwasser weggesoffen hätte.

Bei Aktenzeichen XY hielt ich Papier und Bleistift bereit. Sachdienliche Hinweise nahmen alle Polizeidienststellen und die Aufnahmestudios entgegen. Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führten, konnte man mitunter bis zu tausend Mark kassieren. Ich wartete auf ein Phantombild vom Trebitsch. Dann hätte ich sofort Eduard Zimmermann, Werner Vetterli und Teddy Podgorsky informiert.

Es ging aber immer nur um Verbrechen in anderen Städten, um Morde und Einbrüche und raffiniert eingefädelte Betrügereien, begangen von Tätern mit ausgeprägter Stirnwinkelglatze, die eine vermögende Witwe mit der Strumpfhose erdrosselt oder beim Einbruch Tatwerkzeuge hinterlassen hatten, Schraubenzieher oder Vorschlaghämmer oder Fleischmesser, von denen ich nicht wusste, ob sie dem Trebitsch gehörten.

Erste Ergebnisse kamen erst nach zehn Uhr abends, wenn ich nicht mehr auf sein durfte.

GERHARD HENSCHEL, geboren 1962, ist Schriftsteller und lebt in Hamburg. Sein „Kindheitsroman“, die Lebenserinnerungen des Martin Schlosser aus den Jahren 1964 bis 1975, erscheint in wenigen Tagen bei Hoffmann und Campe (494 Seiten, 22,90 Euro)