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Archiv-Artikel

„Wir wollen Neues beginnen“

Mehpare Bozyigit-Kirchmann

„Europa bietet den Menschen unglaubliche Möglichkeiten etwas Neues dazuzulernen und nicht nur Sklave ihrer eigenen Umstände zu bleiben“„Wir Türken sind sehr ungeduldig. Wir schaffen es nicht, unsere Energien auf zehn oder zwanzig Jahre anzulegenund Langzeitstrategien zu entwickeln“

Nichts weniger, als den Deutschen den EU-Beitritt der Türkei zu verkaufen, ist der Job der 46-Jährigen. Am Märkischen Ufer in Mitte leitet die gebürtige Ostanatolierin Mehpare Bozyigit-Kirchmann das wichtigste Lobbyisten-Büro der Türkei in Deutschland: das des Bundes der türkischen Industriellen, Tüsiad. Bozyigit, langjährige Journalistin und promovierte Sozialwissenschaftlerin, lebte zuvor mit ihrer Familie in Deutschland, den USA und Japan. Gemeinsam mit ihrem Mann schrieb sie einen Roman über drei junge türkische Frauen. 1999 gründete sie zusammen mit dem Reiseunternehmer Vural Öger die Deutsch-Türkische Stiftung, mit der sie begann, Deutsche und Türken aufeinander neugierig zu machen.

INTERVIEW CEM SEY UND ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Frau Bozyigit-Kirchmann, als das Tüsiad-Büro im September vergangenen Jahres eröffnete, mussten Sie die Besucher noch auf Kisten setzen. Ihre Möbel waren noch nicht da. War die Gründung ihrer Berliner Niederlassung so spontan?

Mehpare Bozyigit-Kirchmann: Nein, ich hatte schon im April die Arbeit aufgenommen. Erst musste ich ein Büro finden, dann schöne Möbel. Leider gibt es in Berlin keine gute Auswahl, so dass ich schließlich Designermöbel in Italien bestellen musste. Das dauerte eben.

Eigentlich haben wir erwartet, dass hier alles türkisch ausgestattet ist. Stattdessen sehen wir italienische Stühle, eine koreanische Kommode und eine japanische Vase. Soll das für eine weltoffenen Türkei stehen?

Nein, ich gehe einfach mit der Zeit. Auf türkisches Ambiente bin ich gar nicht gekommen. Es sollte einfach geschmackvoll sein. Etwas aus der Türkei zu importieren, wäre zudem sehr kompliziert und langwierig gewesen.

Ist das symptomatisch für die deutsch-türkischen Beziehungen?

Wenn ich das bejahe, tue ich den Deutschen Unrecht. Abgesehen von Vertretern bestimmter politischer Strömungen, finde ich sie sehr offen und auch bereit, Neues aufzunehmen. Mittlerweile reisen jährlich bis zu drei Millionen Deutsche in die Türkei. Und es gibt viele Berliner, die Kontakt zu Türken gefunden haben. Die konservative Politik, die mit ihrem Nein zum EU-Beitritt der Türkei Stimmung machen will, ist eine andere Realität als die, die hier tagtäglich gelebt wird.

Deutschland ist der größte Handelspartner der Türkei. 40 Prozent der türkischen Exporte gehen nach Deutschland. Seit vielen Jahrzehnten gibt es enge Beziehungen. Warum kam Tüsiad erst 2003 nach Berin?

Für alles gibt es eine Zeit. Zuvor hatte die Türkei viele eigene Probleme. Jetzt haben wir einige davon gelöst, und wir schauen nach draußen und wollen Neues beginnen. Außerdem sind bei Tüsiad etliche deutsche Großunternehmen Mitglied. Allein deshalb ist es sehr wichtig, dass wir nach Washington und Brüssel hier ein Büro eröffnen.

EU – ja oder nein. Das ist in puncto Türkei das große Thema in diesen Tagen. Finden Sie als Türkei-Lobbyistin offene Ohren?

In den vergangenen sieben Monaten konnte ich sehen, dass ich sehr schnell wichtige Persönlichkeiten in der Politik erreichen und ihnen mitteilen kann, was wir zu sagen haben. Ich finde selbst in den Reihen der CDU und der CSU viel Unterstützung.

Was heißt Unterstützung?

Politiker von Ruprecht Polenz bis Wolfgang Schäuble sagten uns erst jüngst wieder, dass sie dafür seien, dass die Türkei ein Datum für den Beginn der Beitrittsverhandlungen genannt bekommt.

Dass Sie als Frau den Bund der türkischen Industriellen vertreten, ist so, als ob für den BDI in Washington eine Frau säße – leider ist das in Deutschland kaum realistisch. Ist es bewusste Tüsiad-Strategie, sich von einer Frau mit Doktortitel vertreten zu lassen?

Das ist für mich selbstverständlich. Wenn ich zu meinen Terminen mit Politikern gehe, gehe ich da als Mensch hin. Ich habe mich nie gefragt, ob es eine Rolle spielt, dass ich eine Frau bin. So sollte es doch immer sein.

Sie gehören aber nicht zu denen, die zielstrebig auf so einen Posten hingearbeitet haben?

Richtig. Als ich nach Deutschland kam, wollte ich zunächst weiter studieren. In Hamburg fand ich auch einen tollen Doktorvater, der für mich erwirkte, dass ich alle notwendigen Scheine statt in acht Semestern in nur anderthalb Jahren machen konnte. Dazu musste ich in nur drei Monaten so viel Deutsch lernen, dass ich das machen konnte.

Klingt nach einem strammen Programm …

… nach meinem Magister ging ich in die USA, gleichzeitig fing ich in Deutschland an zu promovieren. Ich flog zu allen Doktorandenseminaren her und machte in der Türkei meine Feldstudie zum Thema „Massenmedien der Türkei und ihr Einfluss auf die Bevölkerung Ostanatoliens“.

Wieso USA?

Ich habe dort für amerikanische Medien gearbeitet und meinen deutschen Mann kennen gelernt. Nach drei Jahren, nachdem die Promotion erfolgreich abgeschlossen war, gingen wir beide nach Japan. Als Korrespondentin für türkische Zeitungen bin ich viel herumgekommen: nach Süd- und Nordkorea, die Philippinen und Vietnam. Außerdem habe ich dort wieder studiert, japanische Malerei. Es hat fünf Jahre gedauert. Die ersten sechs Monate haben wir nur Bambusblätter geübt. Jeden Tag das Gleiche. Ein Europäer würde verrückt werden. Am Ende aber war ich in der Lage, dieses Blatt mit verschiedenen Schattierungen zu tuschieren. Asiaten finden es erstrebenswert, etwas so kopieren zu können, dass man es vom Original kaum noch unterscheiden kann. Dadurch habe ich auch gelernt, mich zu konzentrieren – und alles perfekt machen zu wollen.

Würden Sie heute sagen, dass das monatelange Malen eines Bambusblattes der jahrelangen Mühe entspricht, die Türkei den Europäern schmackhaft zu machen?

Doch, doch. Man macht ja stets die gleichen Sachen. Ohne die Geduld oder sich selbst aufzugeben. Ohne enttäuscht zu werden, weil man weiß, dass es ein langer Weg wird. Wir Türken sind sehr ungeduldig. Wir schaffen es nicht, unsere Energien auf zehn oder zwanzig Jahre anzulegen und Langzeitstrategien zu entwickeln. Das ist aber etwas, was die Türken jetzt lernen.

Haben Sie mit solchen Ungeduldigen auch in Ihrer Arbeit zu kämpfen?

Nein, ich arbeite mit hochprofessionellen Personen. Die Tüsiad-Mitglieder sind die 500 Topleute, die 60 Prozent der türkischen Unternehmen lenken. Die müssen selbst sehr überlegt sein.

Wie wichtig ist die Präsenz von zweieinhalb Millionen Botschaftern ihres Landes, den türkischen Migranten, hier in Deutschland?

Natürlich hören wir von der CDU, dass sich unsere Migranten nicht gut integrieren. Die jetzige türkische Regierung ist aber die erste, die sich dafür ausgesprochen hat, dass sich die Migranten integrieren und versuchen sollen, Teil der deutschen Gesellschaft zu werden.

Wird das etwas verändern?

Wir sehen die Probleme natürlich auch als ein Resultat daraus, dass hier nicht rechtzeitig mit einer richtigen Integrationspolitik begonnen wurde. Jetzt müssen wir diese Probleme gemeinsam lösen. Andererseits haben sich schon sehr viele Türken integriert. Wir sind ja auch in der Lage, genau so qualitätsbewusst und kreativ zu arbeiten wie die deutschen Kollegen.

Denken Sie jetzt an Fatih Akin, den türkischstämmigen Regisseur, der gerade auf der Berlinale den Goldenen Bären gewonnen hat?

Ja, klar. Das zeigt doch, wie produktiv die Türken als Teil dieser Gesellschaft sein können. Sie können auf wunderbare Weise etwas zustande bringen, das die Deutschen so nicht machen können. In den USA werden Migranten insgesamt mehr geschätzt, weil sie meist so viel positive Energie mitbringen. Ich glaube einfach, viele Deutsche übersehen gern das Positive.

Was wollen Sie dagegen tun?

Tüsiad hilft zum Beispiel dabei, in Deutschland mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Allein in Berlin gibt es rund 5.000 türkische Unternehmen, in Deutschland sind es 60.000. Wir wollen, dass die türkischen Unternehmer hier mehr investieren, Perspektiven schaffen.

Leben Sie als Türkin gern in Berlin?

Es gibt sehr viele Städte oder Länder, wo ich mich zu Hause fühle. Berlin aber könnte meine Wahlheimat werden, weil es etwas durcheinander ist. Und weil es eine unglaublich prächtige, postmoderne Architektur hat, die in die Zukunft weist. In keiner anderen Stadt kann man in dieser Ballung so viel Neues erleben. Das ist für mich der neue deutsche Geist, der ganz offen ist. Mit Stahl, mit Glas und mit sehr viel Licht.

Haben Sie keine Angst vor der Intoleranz in dieser Stadt?

Berlin hat ja eine Tradition der Toleranz, in der Ausländer immer gut untergekommen sind. Ich glaube fest daran, dass Deutschland in der Lage ist, an diese Tradition wieder anzuknüpfen, die mit den Nazis leider aufhörte. Es würde Berlin sehr gut stehen, wenn die 120.000 Türken, die hier leben, integriert wären und sich produktiv beteiligen.

Was hat Sie eigentlich bewogen, nach Japan und den USA wieder nach Deutschland zurückzukehren?

Ich wollte zurück nach Deutschland, weil meine beiden Söhne schon richtig amerikanisch geworden waren. Sie kannten nur Comic-Helden und nicht einmal Grimms Märchen. Ich bin nicht deutschlandbesessen, aber es sollte schon Europa sein.

Fühlen sich Ihre Kinder als Türken, Europäer oder Deutsche?

Als Deutsche. Daher suche ich jetzt wieder die Brücke nach Amerika. Sie sollen multinational werden. Sie sind ja dreisprachig groß geworden, allerdings reden sie, seit dem wir in Berlin leben, nicht mehr Türkisch. Ihre Schulkameraden machten sich über sie lustig, als sie mit mir Türkisch sprachen. Das hat mich sehr enttäuscht, vor allem weil uns das in den USA nicht passiert ist.

Was ist Ihr Traum von Europa?

Dass man ohne Grenzen sich selbst als Individuum verwirklichen und nach Frankreich, Deutschland oder Polen gehen kann. Das bietet den Menschen unglaubliche Möglichkeiten, etwas Neues dazuzulernen und nicht nur Sklave ihrer eigenen Umstände zu bleiben. Wir nehmen von allen Kulturen das Beste, das, was uns einen Schritt weiterbringt.