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Archiv-Artikel

Volle Deckung als Lebensprinzip

Typisch für die Kriegskindergeneration ist laut Experten, dass sie extrem harmoniebedürftig ist – und anpassungsfähig bis zur Selbstverleugnung

„Tief verborgene Traumata sind wie Minen, die packt man nicht mit Händen an“

von BERND MÜLLENDER

Manche können bis heute kein Gewitter ertragen: Kaum donnert es, ziehen sie sich zitternd in die Sicherheit ihres Schlafzimmers zurück. Andere bekommen Schweißausbrüche, wenn sie Staub sehen – wegen der Erinnerung an den allgegenwärtigen Trümmerstaub ihrer Kindheit. Manche machen bei wichtigen Gesprächen bis heute wie automatisch die Fenster zu oder fühlen sich, genau umgekehrt, bei geschlossenen Türen umgehend eingesperrt. Andere neigen ihr ganzes Leben zu übertriebener Vorratshaltung, fühlen sich beklommen beim Geräusch rollender Räder oder heulender Sirenen und haben „für alle Fälle“ immer eine Tasche mit dem Notwendigsten gepackt.

Die Generation der Kriegskinder. Die heute ca. 60- bis 75-Jährigen. Bekannt geworden als Anpacker, Macher, unermüdliche Wiederaufbauer. Die Väter und Mütter des Wirtschaftswunders. Als Kinder haben sie vom Horror des Krieges oft mehr mitbekommen, als ihre Eltern damals glaubten: in Luftschutzkellern, bei Fliegerangriffen und Bombenterror, bei der Trennung von Mama und Papa. Und beim Anblick von Toten. Da wurde ihnen gern gesagt, das Blut sei halt Erdbeermarmelade. Über 12 Millionen Kriegskinder leben unter uns.

Sie haben über ihre Erlebnisse kaum gesprochen, sie nie recht verarbeitet: Vergangenheitsbeschweigung nennen das Experten. Doch heute, über ein halbes Jahrhundert danach, ausgelöst auch 1999 durch die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg und den US-Feldzug im Irak, beginnen sie, sich zu erinnern, sich zu öffnen, sich ihrer schmerzlichen Vergangenheit zu stellen.

Vor kurzem hatte die Trauerakademie Pütz-Roth in Bergisch Gladbach zu einer Tagung eingeladen. „Kriegskinder: Eine unauffällige Generation und ihre vergessene Trauer“. Mit 50 Interessierten hatte man gerechnet, fast 200 aus der älteren Generation kamen schließlich. Viele zuerst scheu, aber dann immer intensiver ins Gespräch vertieft. „Man trifft so viele mit ähnlichen Erfahrungen“, sagt eine Frau. Im eigenen Umfeld gibt es doch auch Leidensgenossen, wundert man sich. Aber da kennt man sich zu gut: „Die Anonymität macht es leichter“, sagt eine Grauhaarige.

Kleingruppenarbeit. Maria K., Jahrgang 1936, erzählt. Sieben war sie, als die Fliegerangriffe über Essen kamen. „Ganz schlimm“ war das, „immer voll Todesangst. Ich war ein ganz dünnes Kind und habe mich auf dem Schulweg immer hinter meiner dicksten Freundin versteckt.“ Manchmal, sagt sie launig, hätten die Flugzeuge halt „absichtlich ’ne Bombe verloren“. Und, mitten in die aufwühlenden Erinnerungen: „Es war aber schön damals.“ Bitte? „Na ja, das Organisieren.“ Klauen? „Na ja …, aber heute schämt man sich ja dafür.“

Solche Geschichten sind typisch, sagt die Kölner Psychotherapeutin Irene Wielpütz (s. Interview). „Viele erzählen lieber, was gar nicht so schlimm war, auch spannende Erlebnisse.“ Man habe ja immer gedacht, sagt Wielpütz, „wer solche Leiden als Kind erlebt hat, muss für immer gegen jeden Krieg sein“. 80 Prozent der Deutschen lehnten den Irakkrieg ab, Alte wie Junge. Anfang April meldete die Agentur AP: Allein in Thüringen habe es innerhalb weniger Tage mindestens 13 CDU-Parteiaustritte gegeben wegen Angela Merkels „rückhaltloser Unterstützung der USA“ beim Irakkrieg. Meist handele es sich „um langjährige und engagierte Mitglieder“. Sie hätten „persönliche Kriegserfahrungen vorgebracht oder betont, dass sie den Krieg nicht mit ihrem Christsein vereinbaren könnten“.

Mitgefühl haben die kleinen Opfer von damals nie erlebt. Nach 1945 hieß es: Vergessen. Es geht nach vorn. Wiederaufbau. Du sollst nicht zurückgucken. Sie wurden von ihren überforderten Müttern durchgefüttert und später materiell befriedet. Typisch für die Kriegskindergeneration, sagen Psychologen, seien dann solche Verhaltensmuster: Sie ertragen Schmerzen sehr gut, sind extrem harmoniebedürftig, anpassungsfähig bis zur Selbstverleugnung, können gut Geschichten erzählen, aber wenig von sich. Sie sind konfliktscheu, dafür stets verlässlich. Bloß nichts tun, worüber andere reden könnten. Volle Deckung als Lebensprinzip – erst bei Fliegeralarm, dann im zivilen Leben.

Jetzt ist das Arbeitsleben zu Ende, die Kinder sind längst aus dem Haus. Sie werden nicht mehr gebraucht – da brauchen sie selbst Hilfe. „Es sitzt drinnen, verdünnt sich immer mehr, aber vergiftet auch immer mehr“, sagt der Münchner Familientherapeut Jürgen Müller-Hohagen. „Tief verborgene Traumata“, sagte in Bergisch Gladbach die Bielefelder Traumatherapeutin Luise Reddemann, „sind wie Minen. Die packt man auch nicht mit Händen aus. Da braucht man Spezialistentrupps.“

Oder für den Anfang wenigstens Gleichgesinnte, Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. So wie der 68-jährige Heinz G. aus Marl. Aufgabe im Seminar: das schlimmste Kriegserlebnis erzählen. G. berichtet von seiner Kinderlandverschickung zum Onkel auf einen ostwestfälischen Bauernhof. „Das war nicht schön, mit neun von den Eltern weg. Aber ich konnte mir gleich einen Welpen aussuchen. Das war dann mein liebster Freund und Kamerad.“ Zurück ging es 1945 per Fahrrad, „tagelang, fast 200 Kilometer, über die gesperrte Autobahn. Das war toll, alles leer.“ Gehört hatte er monatelang nichts von den Eltern. Ob sie noch lebten? „Doch, da hatte ich schon Angst.“ Aber dann sei ja „alles wieder gut gewesen“, sagt er mit einem lauten Seufzer. Alles? Gut? Der eine Bruder kam erst Jahre später krank aus der Kriegsgefangenschaft, sagt Heinz G. mit feucht schimmernden Augen, der andere blieb für immer verschollen.

Am 5. Juni findet in Bergisch Gladbach die Folgeveranstaltung statt: „Wie geht es deutschen Kriegskindern heute?“ www.puetz-roth.de ; www.kriegskinder.de