: Türkische Familien bieten bei Armut mehr Halt
In einer Untersuchung der Universitäten Köln und Bonn sollen die Lebensumstände in den Kölner Problemvierteln Vingst und Höhenberg unter die Lupe genommen werden. Die taz sprach aus diesem Anlass mit dem Direktor des Forschungsinstituts für Soziologie der Uni Köln, Jürgen Friedrichs
INTERVIEW DIRK ECKERT
Herr Friedrichs, wer in den Stadtteilen Höhenberg oder Vingst wohnt, bekommt ab Freitag vielleicht von Ihnen bzw. Ihren Helfern Besuch. Um was geht es bei der Befragung?
Jürgen Friedrichs: Es geht um die Frage, wie Menschen in Stadtteilen leben, die man im Allgemeinen als benachteiligt oder gar arm bezeichnet. Wir fragen, wie homogen die Einwohnerschaft ist. Dabei nehmen wir an, dass sie sehr unterschiedlich ist und sich die einzelnen Haushalte unterschiedlich verhalten.
Was wären die Unterschiede?
Wir vermuten, dass es in den einzelnen räumlichen Teilen Unterschiede gibt und dass sich Haushalte, die mit erheblichen finanziellen Restriktionen leben müssen, auch unterschiedlich verhalten in der Art der Budgetverwaltung. Zum Beispiel gibt es, wie wir aus einer Studie aus Duisburg-Brockhausen wissen, arme Haushalte, die ein sehr bürgerliches Leben anstreben, und Haushalte, die extrem verwahrlosen.
Zum Zweiten wissen wir aus älteren Studien aus Österreich und den USA, dass ein Matriarchat entsteht, wenn etwa der Mann arbeitslos wird und als Hauptverdiener ausfällt. Die Frauen übernehmen dann die Budgetverwaltung. Zum Dritten wird in US-Untersuchungen immer wieder behauptet, dass solche Gebiete sich durch andere soziale Normen auszeichnen. Dass dort abweichendes Verhalten wie Schulschwänzen, Schulabbruch, Drogenkonsum, Kriminalität, keine Suche nach Arbeitsplätzen ein vorherrschendes Verhaltensmuster werden und dass andere Personen in dem Gebiet diese Muster für normal halten und übernehmen. Das wollen wir in Vingst und Höhenberg überprüfen.
Sie wollen in Ihrer Untersuchung 1.000 deutsche und türkische Haushalte befragen. Warum diese Unterscheidung?
In früheren Studien, die wir in Kölner Stadtteilen wie Kalk gemacht haben, konnten wir feststellen, dass die türkischen Haushalte abweichendes Verhalten eher verurteilen als deutsche. Damals sind wir zu der These gelangt: Die türkischen Haushalte wirken stabilisierend. Zudem konnten wir bei der früheren Studie nicht hinreichend genau untersuchen, in welchem Ausmaß es Kontakte zwischen deutschen und türkischen Haushalten gibt, also inwieweit die sozialen Netzwerke der türkischen und der deutschen Bewohner Personen der jeweils anderen Gruppe enthalten.
Wäre es nicht repräsentativer, 1.000 Haushalte nach dem Zufallsprinzip auszuwählen?
Wir wählen die türkischen wie auch die deutschen Haushalte nach dem Zufallsprinzip aus. In beiden Fällen ist die Stichprobengröße, 750 bei den deutschen, 250 bei den türkischen Haushalten, groß genug, um Aussagen machen zu können.
Wie kommen Sie auf diese Zahlenverhältnisse?
Es entspricht den Proportionen in dem Gebiet. Von daher erschien uns das gerechtfertigt. Wir können auch nicht mehr Haushalte befragen, weil das den finanziellen Rahmen sprengt.
Was waren die Ergebnisse bei Ihren Untersuchungen in Stadtteilen wie Kalk, Marienburg oder Nippes?
In den benachteiligten Stadtteilen Kalk, Bilderstöckchen und Meschenich wurde abweichendes Verhalten umso eher gebilligt, je kleiner das soziale Netzwerk der Personen ist. Das lässt darauf schließen, dass bei den Einzelnen andere Verhaltensmodelle fehlen und sie kleine Netzwerke haben, die zum Großteil aus Verwandten bestehen und aus wenigen Personen außerhalb des Gebietes. Ein anderes Ergebnis war, dass Personen, die fast 90 Prozent ihrer Zeit im Gebiet verbringen, eher anfällig sind für die Übernahme abweichender Normen als solche, die dort weniger Zeit verbringen. Es ist also nicht automatisch so, dass je höher der Anteil der Sozialhilfeempfänger in einem Gebiet ist, desto eher abweichende Normen übernommen werden.
Sie haben auch den Villenvorort Marienburg untersucht...
Dort ist die Ablehnung abweichenden Verhaltens größer gewesen als in den vier eben genannten Gebieten. Die sozialen Netzwerke sind wesentlich breiter und sie bestehen aus einem geringeren Anteil an Verwandten. Die Leute verbringen wesentlich mehr Zeit außerhalb, und es gibt kaum Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose.
Wie verändert hohe Arbeitslosigkeit ein Wohnviertel?
Das wollen wir eben untersuchen. Aus Expertengesprächen, die wir vor der Studie geführt haben, wissen wir, dass schlechte Ernährung ein Problem ist. So bekommen Jugendliche zum Beispiel kein Frühstücksbrot mit in die Schule, sondern ein Brötchen mit einem Dickmann dazwischen. Es gibt selten gemeinsame Mahlzeiten, in einzelnen Familien gibt es keine warmen Mahlzeiten. Wir wissen auch, dass in solchen Familien die Kontrolle der Kinder geringer ist. Wir sind vom schulärztlichen Dienst auf Konzentrationsstörungen aufmerksam gemacht worden. Manche Kinder im Alter von acht, neun Jahren haben einen eigenen Fernseher und können bis Abends um elf fernsehen.
Was nützen solche Untersuchungen jenseits des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses?
Man kann gezielter sagen, welche Betreuungsmaßnahmen in welchem Typ von Familie erforderlich sind. Und wir können sagen, welche Infrastruktureinrichtungen in den Vierteln gestärkt werden sollen.
Was heißt das für die Stadtteile, die Sie untersucht haben?
Dass man bessere Schulen braucht, dass man mehr Sozialarbeiter braucht, die in die Familien gehen, und dass man die Menschen auf die Gefahren schlechter Ernährung hinweist.