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Archiv-Artikel

„Wir hätten ein nationales Symbol gebraucht“

Nach dem Krieg hätten die Iraker eine Rolle der UN akzeptiert. Heute wollen sie nationale Legitimität, meint der Politologe Gailan Ramiz

taz: Herr Ramiz, Sie haben Paul Bremer, den Chef der US-Verwaltung im Irak, brieflich um ein Gespräch gebeten. Warum haben sie keine Antwort bekommen?

Gailan Ramiz: Ich glaube inzwischen, die Amerikaner haben gar kein Interesse, mit der alten, gut ausgebildeten Mittelklasse dieses Landes zusammenzuarbeiten. Solche Kräfte formen die liberale demokratische Basis in westlichen Gesellschaften, sie sollten auch hier aktiviert werden. Stattdessen haben die Amerikaner unsere Gesellschaft in einem Vakuum belassen, mit nur zwei Säulen: dem Fundamentalismus und dem Widerstand gegen die Besatzung.

Was haben die Amerikaner falsch gemacht?

Sie hätten sofort eine provisorische irakische Regierung schaffen sollen. Wir hätten vom ersten Tag an ein nationales Symbol gebraucht. Der Krieg hat nicht nur den Staat, sondern auch die Gesellschaft zerstört. Die Leute haben damals die staatlichen Institutionen niedergebrannt und sie haben gesehen, dass die Koalitionstruppen einfach nur tatenlos danebenstanden. Der Respekt vor dem Gesetz ist dahin. Heute respektieren sie auch nicht die Koalitionstruppen.

Die Befreiung von der Diktatur hat die irakische Gesellschaft aber nicht gerade zusammengeschweißt …

Die Amerikaner dachten, wenn Saddam weg ist, werden sich alle Widersprüche unserer Gesellschaft auflösen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Menschen frei sind, werden Widersprüche erst richtig deutlich, weil es eben zum Leben gehört, dass es Interessenkonflikte gibt. Die Frage ist, wie man damit umgeht.

Sollen die Amerikaner abziehen oder bleiben?

Würden Sie die Iraker fragen, würden die meisten antworten, dass die Amerikaner bleiben sollen. Sie haben Angst vor einem Sicherheitsvakuum. Viele sind dankbar für die Befreiung, aber es ist für sie schwer zu verdauen, dass dies durch eine ausländische Intervention geschehen ist.

Und was meinen Sie: Wurde der Irak befreit oder besetzt?

Beides trifft zu, und wir müssen mit diesem Paradoxon leben.

Nun soll sich das Paradoxon auflösen. Die Amerikaner haben einen Plan für einen politischen Prozess vorgelegt – mit Wahlen und einer Verfassung.

Sie dachten wohl: Lasst uns eine Verfassung schreiben, dann wählen und am Ende eine echte Regierung haben. Es hätte genau andersherum gehen sollen. Die Amerikaner haben ihre eigene Verfassung auch erst 1767, zwölf Jahre nach ihrer Unabhängigkeit, geschrieben. Hätten die Gründungsväter begonnen, gleich die Verfassung über ihr Bundesstaatensystem zu schreiben, Amerika wäre bis heute womöglich eine britische Kolonie. Sie haben die schwierigen Fragen für später aufgehoben und den politischen Prozess geöffnet.

Könnten die UN eine konstruktive Rolle in diesem politischen Prozess spielen?

Es gibt nun einen Zeitplan für die Machtübergabe, Wahlen und eine Verfassung. Was bleibt da für die UN übrig? Nach dem Krieg hätten die Menschen vielleicht noch eine Rolle der UN akzeptiert. Heute wollen sie nationale Legitimität. Die internationale Gemeinschaft könnte helfen, den Prozess zu formulieren, sie wäre aber kein Ersatz dafür.

Wie sollen die unterschiedlichen Forderungen im politischen Prozess zusammenkommen? Die schiitischen Organisationen fordern Wahlen, die kurdischen Parteien präferieren eine föderale Verfassung.

Ich kann die Kurden und ihre legitimen Wünsche gut verstehen. Dass sie zufrieden gestellt werden, ist eine Voraussetzung für unsere Koexistenz. Ich kann nur wiederholen, dass wir uns mit der Verfassung Zeit lassen sollten. Wir könnten eine vorläufige Verfassung schreiben, und alle wüssten, dass es eine zweite Runde gibt. Aber die Amerikaner wollen Endgültigkeit. Meiner Meinung nach sind nichtperfekte Wahlen heute näher an der Vorstellung von Demokratie als ihr Vorschlag, die nächste Regierung durch obskure Wahlversammlungen bestimmen zu lassen und perfekte Wahlen zu einem späteren Zeitpunkt abzuhalten.

Wir reden hier vom kurdischen Föderalismus und schiitischen Wahlforderungen. Was ist mit den Sunniten, die in den letzten 500 Jahren das Land beherrscht haben?

Wir hören von ihnen nur aus Dörfern und ländlichen Kleinstädten. Es ist leicht für ein paar lokale Stammesführer, einen US-Militärkonvoi anzugreifen und das als Widerstand zu bezeichnen. Es ist wesentlich schwieriger, Ärzte und Professoren zu mobilisieren, die – ob Sunnit oder Schiit – für gemeinsame Werte und Lösungen eintreten.

Der Irak galt stets als säkularer arabischer Staat. Wandelt sich das Land gerade in eine religiös konservative Gesellschaft? Die Kopftücher werden mehr, Alkoholläden werden überfallen, und ein Teil des Widerstandes gegen die USA legitimiert sich islamisch.

Der Ansatz der Amerikaner könnte zu einer fundamentalistischen Gesellschaft führen. Das ist auch in Palästina geschehen. Wenn die Leute die Hoffnung verlieren, dass die US-Verwaltung sie zum Licht am Ende des Tunnels führt, dann werden wir genau einen solchen Rückschlag erleben. Die Menschen werden sich mit ihnen bekannten kulturellen Normen wehren, und Religion ist da am ehesten greifbar. Die Bedrohung, die Bush und Blair vom Terrorismus zeichnen, ist realistisch. Aber ich fürchte, mit ihrem Kulturkrieg haben sie den falschen Weg eingeschlagen.

Wir reden stets davon, was die Amerikaner falsch machen. Hat der Krieg im Irak nicht wenigstens die arabischen Despotien ins Wanken gebracht?

Die Amerikaner dachten, alle irakischen Widersprüche würden beendet sein, wenn Saddam gestürzt ist, und dann wird der Irak zum leuchtenden Beispiel für eine Demokratie, die auch andere nahöstliche Regime stützt. Manche gingen sogar so weit, von einer strategischen Allianz zwischen Irak und der Türkei zu träumen, die Israel die Hand reicht. Das ist reines Wunschdenken.

Wir nähern uns dem ersten Jahrestag nach Kriegsende. Welchem Szenario wird der Irak dann näher stehen: der Demokratie oder dem Chaos?

Die Dinge entwickeln sich schlecht. Die Situation kann über Nacht vollkommen außer Kontrolle geraten. Mir wird Angst und Bange, wenn ich darüber nachdenke. INTERVIEW: KARIM EL-GAWHARI