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Archiv-Artikel

Wer folgt auf Joschka Fischer?

Den Grünen geht es gut. Demoskopisch schweben sie wieder mal bei zehn Prozent herum. Im Windschatten der ewig zugigen Parteienkonkurrenz gibt es eine Verschnaufpause. In der Regierung und ohne Probleme – davon hatten manche schon immer geträumt.

Ausgangspunkt strategischer Überlegungen für die nächsten Jahre ist der erreichte Grad an Normalisierung. Die Grünen sind heute eine fast normale Partei. Strukturell gibt es nur noch wenige Reminiszenzen an die Bewegungsherkunft. Personell haben sie eine Elite, eine immer noch hinreichende Zahl von Aktiven und sogar Mitgliederzuwachs. Inhaltlich wurden ihre Kernthemen während der ersten Legislaturperiode abgehandelt, so dass sie sich jetzt mit allen anderen auf dem Feld ökonomischer und sozialer Fragen tummeln.

„Normalisierung“ bezieht sich auf die Bewegungsherkunft der grünen Partei. Für den politischen Einfluss der ehemaligen Bewegungspartei in einer Reformregierung zählen – wie für alle – Wählerprozente und Zahl der Koalitionsoptionen. Mit zunächst sechs, dann acht Prozent und nur einer Option sind die Grünen ein Koalitionsakteur dritter Klasse. Sie mussten froh sein, ihre Themen auf die Agenda bringen zu können – die Problemlösung bestimmten andere. Gerhard Schröder kontrollierte die Mehrheitsverträglichkeit der Lösungen, Joschka Fischer assistierte dabei. Das verlagerte die Konflikte mehr in die Grünen hinein und hin zu ihren Wählern, weniger auf die Ebene zwischen beiden Parteien.

Die Grünen haben mittelfristig eine Einflusschance nur als rot-grüne Lagerpartei, aber auch als Trägerin eines unverkürzten Modernisierungskonzepts, das sie zugleich über enge Lagergrenzen hinausführt.

1. Lager-Strategie

Die Lektion, die der FDP von den Wählern erteilt wurde und an der die PDS bei der Bundestagswahl scheiterte, gilt für erfolgreiche Kleinparteien: Gravitationszentrum ist die Großpartei in ihrem Lager. Die Hauptstrategie muss auf sie gerichtet sein. Der Gewinn ist (durch Stimmensplitting, Koalitionswähler etc.) größer als die Einbußen an politischer Souveränität. Am 22. September 2002 blieb die FDP so erbärmlich hinter ihren 18 Prozent zurück, weil sie lagerunabhängig sein wollte. Eine dezentrale Auflockerungsstrategie (Land, Kommune) darf nicht die Alternative zum „geborenen“ Bündnis bilden. Eine dezentrale Bündnisstrategie mit anderen Partnern müsste schon deshalb von zuverlässiger Zusammenarbeit auf der Spitzenebene begleitet werden, weil die Grünen ihre jetzige Stärke sozialdemokratischen Leihstimmen verdanken. Mindestens ein Drittel ihrer Wähler könnten – bei Zweifeln an rot-grüner Kooperation – zur SPD zurückkehren. Auch ist die Gefahr nicht zu übersehen, von der Union in deren Richtungs- und Führungskämpfen instrumentalisiert zu werden. So könnten die Grünen auf keinen Fall von einem virtuellen Bündnis mit Angela Merkel profitieren – die grüne Hoffnung bei der Bundestagswahl 2006 heißt Roland Koch. Auch wenn sich Koch zwischenzeitlich im Konstruktiven übt: sein personenbezogenes Polarisierungspotenzial bleibt so stark wie das von Edmund Stoiber bei der vergangenen Bundestagswahl.

2. Profilierungsstrategie innerhalb der rot-grünen Bundesregierung

Profil braucht Thematisierung, häufig auch Konflikt. Die grünen Kernthemen wurden in der ersten Legislatur abgehandelt. Ohne größere Streitfragen auf ökologisch-kulturellen Feldern aber droht das aktive Profil der Grünen zu verblassen. Ihre Funktion als kleine Lagerpartei, die in der Krise der großen Lagerpartei deren unzufriedene Wähler in Teilen auffängt, bedeutet nicht automatisch die Tragfähigkeit ihres Profils. Das haben die Grünen zwischen 1995 und 1998 und zuletzt die FDP in der Spendenskandalkrise der Union erlebt. Beide Male folgte der Euphorie eine Phase der Ausnüchterung.

Als Bezugsrahmen bieten sich die drei Mehrheiten an, wie sie sich vor und nach der Bundestagswahl gezeigt haben: eine ökologisch-kulturelle und eine soziale Mehrheit, die Rot-Grün stützen, sowie eine ökonomische Mehrheit, die jetzt wieder deutlich zu Schwarz-Gelb tendiert. Die zwei Mehrheiten, auf denen Rot-Grün aufbaut, wollen: die offene, wirklich plurale Gesellschaft, die ökologische Mäßigung der Ökonomie, das Beharren auf sozialer Gerechtigkeit auch unter Bedingungen globalisierter Konkurrenz, die Ablehnung von Krieg ohne zwingende menschenrechtliche Gründe.

Die ökologisch-kulturelle Mehrheit

Die Präsenz der Grünen in der Regierung ist schon aus Gründen der Verstetigung in ökologischen Fragen sinnvoll. Zumal in der zweiten Legislaturperiode, die die eingeleiteten Reformen wie Atomausstieg, neue Energiepolitik, Ökosteuer erst einmal gegen schnelle Revision sichern muss. Aber dies wird kein Argument für die Daueranwesenheit der Grünen in der Regierung sein.

Wo also sind die neuen Themen, die auch Jüngere über die Ökologiefrage an die Grünen heranführen und Ältere remobilisieren können? Das Großthema der Nachhaltigkeitsstrategie hat bisher nicht genügend bürgernahe Konturen entwickeln können. Eine Erweiterung der Ökosteuer ist in der ökonomischen Krise schwer vermittelbar. Ökologische Landwirtschaft und Verbraucherschutz sind Felder der Dauerreform, in denen Fortschritte in Zentimetern, nicht in Metern gemessen werden. Das Problem für die Partei: Ohne eine Aktualisierung und neue Aufmerksamkeit für die Ökofrage glauben viele, die Fortführung der ökologischen Reform sei ein Selbstgänger – auch ohne die Grünen. Verstetigung könnte auch auf dem Feld gesellschaftspolitischer Themen, also im Bereich der kulturellen Mehrheit, zu wenig sein. Zuwanderungs- und Integrationspolitik war das Kernstück in der ersten Legislaturperiode. Noch einmal könnten die Grünen auf diesem Feld gefragt sein – in der Defensive. Nur die Grünen könnten im Ernstfall durch einen harten Konflikt mit der SPD eine Demontage des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat durch die Achse Schily–Beckstein verhindern.

Die soziale Mehrheit

In der – neben der Umweltkompetenz – immer starken Kompetenzzuschreibung auf dem Feld sozialer Gerechtigkeit drückt sich vor allem eine Erwartung an die grüne Politik aus. Dabei ist die Gerechtigkeitsvorstellung der Grünen stärker pluralisiert als bei den anderen Parteien: Verteilungs-, Teilhabe-, Generationen-, Geschlechter-, Globalisierungsgerechtigkeit – diese Ausweitungen sind ein produktiver Beitrag der Grünen. Gleichzeitig fungieren sie aber auch als Verschiebebahnhof und Interpretationsmagazin (wenn zum Beispiel grüne Neoliberale eine harte Sparpolitik mit Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit begründen). Auch die Grünen hatten 2002 kein Projekt für „mehr“ soziale Gerechtigkeit, ähnlich dem von 1998, als die „Gerechtigkeitslücke“ und präzise Forderungen ein Thema waren, das zur Abwahl von Helmut Kohl beigetragen hat. Die Erwartung ist hoch geblieben; im Zeichen hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Stagnation hat sich aber die Bedeutung verschoben. Am 22. September 2002 reichte die Rhetorik sozialer Gerechtigkeit und das Beschwören sozialer Restauration unter Stoiber. Tatsächlich sind viele Arbeiter-, Arbeitslosen- und auch Gewerkschaftswähler bei der vergangenen Bundestagswahl und bei den Landtagswahlen 2003 zu den bürgerlichen Parteien gewechselt. Nicht weil sie von Gerechtigkeit nichts hielten, sondern weil sie andere Prioritäten haben: erst Wachstum, dann Gerechtigkeit.

Die ökonomische Mehrheit

Auf dem Feld ökonomischer Modernisierung gibt es für die Grünen Kooperationsmöglichkeiten auch über Lagergrenzen hinweg. In Zeiten von Stagnation und Immobilismus sind marktwirtschaftliche Dynamisierungsinstrumente gefragt, mit denen jedes Land auch unabhängig von der weltwirtschaftlichen Entwicklung sein ökonomisches Potenzial verbessern kann. Mittelstandsoffensive, Entbürokratisierung, Flexibilisierung in der Beschäftigungspolitik sind Beispiele. Grenzen der Deregulierung gibt es für Grüne schon deshalb, weil sie bei Umwelt- und Verbraucherschutz auch auf starkes staatliches Handeln angewiesen sind. Der Bundesrat, die Bühne der zweiten, einer rot-grün-schwarzen Regierung, ist der Ort solcher Zusammenarbeit. Mindestens öffentlich – real ist ihr Einfluss auf dieser Ebene eher gering – könnten die Grünen versuchen, Differenzen zum kleinsten gemeinsamen Nenner großer Koalitionen erkennbar zu machen – vorausgesetzt, sie selbst könnten sich auf eine Politik mit eigenem Profil verständigen.

Es ist unverkennbar, dass die Grünen im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Modernisierung und Gerechtigkeit nicht nur ein Strategie-, sondern mehr noch ein Richtungsproblem haben. In der Fraktion gibt es eine harte neoliberale Tendenz und eine schwache, bürgerrechtlich und pazifistisch orientierte Linke ohne sozialpolitisches Profil. Dazwischen existiert ein lavierender Mainstream. Es fehlt hier ein zuverlässiger Kompass, der Wege weisen könnte zwischen einem Neoliberalismus des minimalen Sozialstaats und dem alten „passiven Sozialversicherungsstaat“. Die Grünen müssen, das ist die inhaltliche Hauptaufgabe der nächsten Zeit, ihr Werkstück auf der Baustelle des neuen Sozialstaats platzieren. Sie müssten im Allgemeinen genau werden. Sie brauchten aber auch präzisierte Antworten auf die Frage: „Was ist sozial an den Grünen?“

3. Die Grünen als Partei der unverkürzten Modernisierung

Insgesamt wird aktive Profilierung für die Grünen schwieriger. Fortführung und Verstetigung ist für die gesellschaftliche Verankerung ihrer Kernanliegen auf den ökologisch-kulturellen Feldern wichtig, für grüne Randwähler und Ungebundene aber zunehmend unattraktiv. In ihren Kernbereichen brauchen die Grünen neue Themen, Projekte oder Ministerien (mit spezifischen Initiativ- und Profilierungsmöglichkeiten). Skeptisch kann man sein hinsichtlich der Möglichkeit, internationale Politik kulturell stärker aufzuladen, zum Beispiel durch eine an spezifisch europäischen Traditionen orientierte europäische Außenpolitik, auch im Spannungsfeld zu den USA. Zu sehr stößt sich europäische „Emanzipation“ an grünen Werten, wenn es – jenseits der Rhetorik – an den militär- und machtpolitischen Unterbau einer europäischen Politik ginge, die aus dem Schatten der USA treten sollte. Ein weites Feld, das sich hier allerdings nicht nebenbei abhandeln lässt.

Vielleicht kann es weiterhelfen, die Grünen auf den Begriff zu bringen: zum Beispiel als Partei unverkürzter Modernisierung. So wären eigene Stärken – einer ökologisch-kulturellen Modernisierung und einer Modernisierung des Gerechtigkeitsbegriffs – zu verbinden mit Angriffsmöglichkeiten gegen eine halbierte, auf das Ökonomische reduzierte Modernisierung. Unverkennbar sind die Schwierigkeiten der Unionsparteien, sich auf ein Konzept kultureller Modernisierung zu verständigen, ohne das man in Deutschland nur noch dann mehrheitsfähig sein kann, wenn das andere Lager auf dem Feld der Ökonomie krachend versagt. Da das Ökonomische (der Bereich, in dem den Grünen keine besondere Kompetenz zugeschrieben wird) heute eng mit dem Sozialen verbunden ist (also mit dem Bereich, in dem von den Grünen durchaus etwas erwartet wird), könnte es für sie vielleicht schon reichen, wenn sie mit einem unverwechselbaren, neuen Begriff des Sozialstaats in Verbindung zu bringen wären.

Auf eine länger anhaltende SPD-Krise kann man nur deshalb nicht wetten, weil niemand dagegensetzt. Die mindestens ein Jahrzehnt aufgeschobene Sozialstaatsdebatte stürzt die Partei in eine Richtungs- und Wählerkrise. Ein sinnvolles grünes Verhalten in dieser Situation wäre antizyklisch: in der Krise des anderen Vertrauen aufbauen, das man in der nächsten eigenen Flaute braucht. Die Grünen haben es wegen größerer sozialer Homogenität und als Partei der sowohl Bessergebildeten wie Besserverdienenden leichter als die SPD, die auch die Partei der Modernisierungsverlierer ist. Da viele Sozialdemokraten die Grünen immer noch als illegitime Abspaltung von der SPD oder als „Partei der Bürgersöhnchen“ sehen, konnten sie auch immer schlecht mit Phasen umgehen, in denen die Sozialdemokraten verloren, die Grünen aber gewannen. Durch Projektion wurden die Grünen zu Schuldigen der Schwäche der SPD. Rational lässt sich dem aus rot-grüner Sicht nur entgegnen: Es ist doch eigentlich egal, wo rot-grüne Wähler parken, solange sie es nicht im (schwarz-gelben) Parkverbot tun. Auch in der SPD-Krise kann man an einfache Fakten erinnern: 1. Jetzt, da es ihnen gut geht, kommt ein Drittel der grünen Wähler von der SPD. 2. Die SPD verstehen heißt, die Probleme eines Zusammenhalts der ganzen Gesellschaft besser verstehen. 3. Sozialdemokratische Sozialstaatsdebatten sind auch grüne Sozialstaatsdebatten.

Die Stillstellung von Führungskämpfen durch Joschka Fischer ist ein Gewinn für die Partei, seine Popularität natürlich ebenso. Beides wird damit erkauft, dass Fischer zugleich eine demokratische Belastung für die Grünen darstellt. Jede inhaltliche Position der grünen Eliten und jede Besetzung einer Führungsposition steht unter dem Vorbehalt seiner Zustimmung. Zu vielen Fragen sagt er nichts, aber wenn es ans Strategische geht, ist er hinter der demokratischen Fassade Alleinherrscher.

Hat die basisdemokratische Partei ihre Vergangenheit bewältigt, um in Zukunft einen grünen Bonapartismus zu praktizieren? Den Grünen steht die Erfahrung einer ganz normalen Demokratie noch bevor, jenseits von Basisdemokratie und Bonapartismus. Erst ein zweites Elitenversagen brächte das grüne Projekt in Gefahr. Das erste, heutige Elitenversagen besteht darin, dass sie nicht stark genug ist, Gegengewicht und demokratische Kontrolle gegenüber Fischer aufzubauen. Ein zweites Elitenversagen wäre die Unfähigkeit, nach einem Abgang von Fischer die Kraft zu kollektiver Führung ohne Diadochenkämpfe aufzubringen. Solche Kämpfe wären in höchstem Maße irrational, zumal es im Nicht-Amt als informeller Parteivorsitzender keine Nachfolge für Fischer geben kann. Also bleibt die Frage des Außenministeriums – Fischers Abgang hieße ja, er ginge als „EU-Außenminister“ nach Brüssel. 1998 konnten die Grünen noch wählen, ob sie das Auswärtige Amt besetzen wollen. Damals gab es gute Argumente dagegen. Heute müssen die Grünen ihrer eigenen Machtlogik folgen. Die Aufgabe des Amtes nach einem Abgang Fischers – zum Beispiel im Tausch gegen ein oder gar zwei gesellschaftspolitische Ministerien – würde freiwillige Machtaufgabe bedeuten. Inzwischen gibt es gute Gründe, bei Fragen von Krieg und Frieden sowie im Sicherheitskabinett mit Gewicht vertreten zu sein. Also ist das Ministerium kein Thema bei den Grünen, sondern nur seine Besetzung.

Jürgen Trittin, der sich aufgrund der informellen Hierarchieposition offenbar als erster Anwärter sieht, käme schon deshalb nicht in Betracht, weil ein guter Außenminister mehr als jeder andere Minister glaubwürdiger Sprecher und Vertreter von Gesamtinteressen seines Landes sein muss – und Trittin ist noch nicht einmal repräsentativ für seine eigene, realo-dominierte Partei. In einem schwierigen Ministerium bewährt, im Mainstream der Partei verankert, mit guten Chancen, als Sprecherin des Landes akzeptiert zu werden, wenn auch bisher nur mit ressortbezogener internationaler Erfahrung, könnte man Renate Künast, der Unerschrockenen, etwas zutrauen im Außenministerium. Das Amt macht den Minister (und die Ministerin), und das Auswärtige Amt formt die Minister, auch wenn diese dort wie Genscher, Kinkel oder Fischer nicht als Spezialisten einrücken.

Würde man bei den Rochaden nach Fischers europäischem Abgang Fritz Kuhn in eines der beiden Ämter der Fraktionsvorsitzenden bringen, hätte man die wichtigsten Personen für eine kollektive Führung der Nach-Fischer-Zeit in den einflussreichsten Ämtern beisammen. Dies wäre eine der Voraussetzungen – mehr nicht –, um Führungs- und Richtungskämpfe so weit wie möglich zu vermeiden. Wirkliche kollektive Führung ist ein Ausnahmezustand auch für demokratische Parteien. Allerdings: Als Übergang von informell-autokratischen zu formell-demokratischen Verhältnissen wäre sie nicht der schlechteste Notbehelf.