: Raum für Experimente schaffen
Wenn Köln „Bühne für Europa“ werden will, muss es großzügiger denken: die Kulturen einbinden, die Menschen ansprechen, den Kreativen viel Freiraum geben. Ein Plädoyer für die Kulturstadt Köln
VON ANGELA SPIZIG
Gespräche in den Kulturhauptstädten Europas haben mich erfahren lassen, wie Köln in der Fremde wahrgenommen wird: das Stadtbild, das kulturelle Angebot, die Menschen, die Atmosphäre. Bei einem solch fremden Blick auf die Stadt bilden die Worte „Köln – Kultur – Europa“ einen überzeugenden Dreiklang.
Und das nicht allein wegen der zentralen Lage, wegen der 2000 Jahre alten Geschichte, in der durch den Rhein Einwanderungswellen mit unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen in die Stadt getragen und integriert worden sind. Oder wegen des Doms, der weltweit eines der meistbesuchten Bauwerke ist. Sondern wegen der einzigartigen Verbindung von einem reichen kulturellen Erbe und einer lebendigen, kulturellen Avantgarde. Wegen der Offenheit, die diese Stadt auszeichnet und die hilft, Grenzen zu überschreiten – auch in die Zukunft hinein.
Das Projekt „Kulturhauptstadt Europas 2010“ bietet die Möglichkeit, auf der Grundlage einer rückhaltlosen Bestandsaufnahme Ziele für die Stadt, ihre Kultur, ihre Urbanität und ihre Lebensqualität zu formulieren. Und zwar Ziele und Visionen, die weit über 2010 hinaus führen.
Chance für die Freie Szene
Der Blick richtet sich dabei nicht vorrangig auf die großen Institutionen, sondern auf die Freie Szene, die Kreativen und Kulturschaffenden, die zur Zeit wahrlich keine guten Produktionsbedingungen haben. Er bezieht die Bereiche Bildung, Wissenschaft und Medien mit ein. Er umfasst die architektonischen Gegebenheiten der Stadt, die historisch-archäologischen Zonen, die auf Kölns Vergangenheit verweisen, aber auch die Plätze, die heute nach einer ästhetischen, menschenfreundlichen Gestaltung schreien. Er umfasst den gesamten öffentlichen und sozialen Raum. Es geht eben nicht darum, bei einem Mega-Event im Jahre 2010 publikumswirksam Millionen Euro abzufackeln. Es geht darum, das sichtbar zu machen, was wir in Köln haben und was wir nicht verlieren dürfen.
Wenn Künstler die Stadt verlassen, dann ist es, weil sie anderswo bessere Arbeits-, Probe- und Auftrittsbedingungen zu finden hoffen. Deshalb hat die Freie Szene früh verstanden, dass die Bewerbung die Chance bietet, die Situation vor Ort zu verbessern. Und so arbeiten große Teile der Freien Szene intensiv bei diesem Prozess mit, in dem bereits jetzt so viele Netze geknüpft wurden, dass diese Investition von Zeit und Energie für alle Beteiligten sinnvoll war.
Seit 2001 habe ich als Bürgermeisterin die Kulturhauptstädte Europas besucht und daraus gelernt, über welches Potenzial Köln verfügt. Porto konzentrierte sich auf die Architektur und die Sanierung alter Viertel und Stadthäuser mit dem Ziel, traditionelle Strukturen zu erhalten und sie dabei modernen Lebensentwürfen anzupassen.
In Rotterdam wurde versucht, durch gewagte Architektur-Akzente im Zentrum Aufmerksamkeit zu erringen, aber nach Ladenschluss fehlte dort das urbane Leben. Erfolgreicher war der Ansatz der Stadt Rotterdam, in der 70 Prozent der neugeborenen Kinder einen Migrationshintergrund haben, durch dezentrale Kulturprojekte die Themen „kulturelle Vielfalt“ und „soziale Kohäsion“ zu bearbeiten.
Brügge pflegte sein „Kulturerbe“: Die alten Innenstadthäuser wurden einheitlich restauriert und mit einzelnen modernen Ausstellungen gefüllt. Vom Image eines schönen Freilichtmuseums konnte sich die Stadt damit nicht befreien. Ähnlich war es in Salamanca: In den historischen Gemäuern gab es zwar progressive Kunst, doch im Stadtbild war die Kulturhauptstadt eher durch fröhliche Beflaggung präsent.
Einladung zum Schauen
Ganz neue Maßstäbe hat dann noch einmal das kleine Graz gesetzt. Das Motto wandelte sich von „Graz, wer hätte das gedacht“ zu „Graz darf alles“. Und dies spiegelt sich im Stadtbild wider. Inmitten der Barock-Ensembles hockt leuchtend blau das neue Kunsthaus, von den Einwohnern als „friendly alien“ aufgenommen. Die stählerne Insel im Flüsschen Mur ist nicht nur ein Blickfang, sondern wimmelt von Besuchern. Auf der Bergspitze hat die Burg einen Schattenturm, der an die düstere Seite in der menschlichen Seele gemahnt. Innenhöfe, Plätze, Straßen – überall stoßen die Passanten auf Skulpturen, Spiegelwände, feine „Störer“, die den Lauf des Alltags unterbrechen, zum Schauen, Lachen oder Nachdenken einladen.
Wenn Köln eine „Bühne für Europa“ werden will, muss es sich aus seiner oft gescholtenen Selbstgenügsamkeit lösen und großzügiger, internationaler denken. In Köln haben 25 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Diese Kulturen mit ihren traditionellen sowie modernen künstlerischen Ausdrucksformen müssen in Köln ihren Platz bekommen. Sollte die gemeinsame Bewerbung mit der Partnerstadt Istanbul gelingen, würde das den kulturellen Austausch und das gegenseitige Verständnis enorm dynamisieren.
Zum Mitmachen bewegen
Köln hat eine ganz besondere kulturelle Infrastruktur durch seine Bürgerzentren. Diese sollte man nutzen, um die BürgerInnen zu erreichen und zum Mitmachen zu bewegen – damit das Motto „Wir leben das“ stimmt. Auch gibt es in Köln hervorragende kulturelle Bildungsangebote von freien Kunst- und Musikschulen für Kinder und Jugendliche. Wie in den skandinavischen Ländern sollten wir aber weiter gehen und jedem Kind ein „cultural backpack“ zur Verfügung stellen. Das heißt, Künstler und Musiker städtischer Kulturinstitutionen und professionelle freie Künstler werden an die Schulen angebunden – gerade in Hinblick auf die Organisation der offenen Ganztagsschule eine zukunftsweisende Überlegung.
Die Verwaltung muss ein kulturfreundliches Klima schaffen, Raum für Subkulturen, Raum für Experimente. Ein positiver Ansatz nach Jahren der Restriktionen ist derzeit der Runde Tisch zwischen Ordnungsamt, Anwohnern und Musikveranstaltern, an dem die Lärmschutzproblematik lösungsorientiert behandelt wird, anstatt einfach die Musikkneipen zu schließen.
Es gibt Menschen in der Kölner Verwaltung, die schon immer sensibel für Kunst im öffentlichen Raum waren und die KünstlerInnen einen Freiraum geben, um den uns andere Städte und Länder beneiden. Das beweisen die Aktionen der Performance-Künstlerin Angie Hiesl, die jetzt als eine der elf Kulturbotschafterinnen für die Kulturhauptstadt wirbt.
Ein lebendiger Austausch
In Köln ist es möglich, eine U-Bahn-Station mit Rasen, Wasserkanal, Spiegeln zu versehen und dort die KVB-Benutzer mit Musik und Performance-Kunst zu konfrontieren (Projekt Kachelhaut). Es ist sogar möglich, Dübel in denkmalgeschützte Fassaden zu schrauben, in sechs Meter Höhe über der Straße Stühle zu verankern, auf denen alte Menschen sitzen, zu denen die Fußgänger fasziniert aufschauen, um sich danach mit anderen Passanten darüber auszutauschen (Projekt X mal Mensch Stuhl).
Eine solche Nutzung des öffentlichen Raumes, um ein Vielfaches erweitert und an den unterschiedlichsten Orten, stünde der Stadt gut zu Gesicht. Kultur überall und für alle in Köln! Das wäre doch eine tolle Perspektive für 2010 – und darüber hinaus!
Unter dem Vorzeichen „Einladen und nicht ausgrenzen“ kann die Bewerbung Kölns zu einer dynamischen Entwicklung der Bürgergemeinschaft führen. Es ist ein offener Prozess mit einem nicht planbaren Ergebnis, zu dem Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen, Berufen und Altersgruppen etwas beizutragen haben. Ein lebendiger Austausch, ein aktives und kreatives Lebensgefühl können einen Innovationsschub in die Stadt bringen und ein frisches Image für Köln schaffen, weg von pappnasiger Kölsch-Seligkeit. Nutzen wir diese Chance!
Die Autorin, seit 2000 Bürgermeisterin von Köln, vertritt die Grünen im Rat und im Kulturausschuss. Zur Diskussion um die Kulturhauptstadt siehe auch die Beiträge in der taz vom 12.2 und 18.2.