piwik no script img

Archiv-Artikel

Purcell is for the market made

Wie passend! An der Staatsoper Hannover schickt Kazuko Watanabe den Barock-Composer mit ,,Evening Hymn“ in die Shopping-Mall

Baröckern-feierabendliche Sehnsüchte zelebriert, ein HauchApokalypse inklusive

Liebe nur mit Ausrufezeichen: So flattert sie in Versalien gedruckt auf einer Fahne über der Staatsoper Hannover. Und: „LIEBE!“ steht auch auf dem Plakat der jüngsten Premiere. Dort sitzt bald nach der Ouvertüre ein Frauenzimmerchen über ihrem Briefpapier und sopraniert „She loves and confesses too“, worauf ein Tenor „Man is for the women made“ intoniert – und die Angebetete mit notgeilem Getätschel in die Flucht treibt. In Henry Purcells Evening Hymn, wenn feierabendlich die Sehnsüchte erwachen, wird richtig losgeopert. Es geht um alles: Liebe, Lust und Leidenschaft – ein Tag im Leben einer Shopping Mall.

Dort nämlich verortet Kazuko Watanabe die Musik Henry Purcells. Von vier Königen nacheinander behütet, schrieb der englische Komponist bis zum letzten Tag seines 36 Jahre kurzen Lebens. In der Hannoveraner Inszenierung werden Lieder, Tänze, Theatermusiken und religiöse Huldigungen Purcells zusammengefasst. Watanabe inszeniert eine Handlung drum herum, ohne erläuternde Spielszenen zu benötigen: Das Werk bietet für alles allzu Menschliche Entsprechungen. Groteske, innige, pompöse, schmerzliche Inhalte – unter Konrad Junghänels Leitung führt das Staatsorchester die breite Ausdruckspalette vor, die Purcell dem kompromisslos erhabenen Händel voraus hatte.

Es macht musiktheatralisch Sinn, sich Purcell zuzuwenden. Was seine Lieder mit unserer Zeit gemeinsam haben, ist existenzielle Traurigkeit: Im Barock fühlten sich die Menschen gefangen an ihrem vorbestimmten Platz. Unsere heutige „verbaute, geregelte Welt“ stelle, so Dramaturg Xavier Zuber, einen ebenso künstlichen Lebensraum fern der Natur dar. Die Menschen, uniformiert mit Corporate Identity: bis in den vorletzten Wesenswinkel funktionalisierte Geschöpfe, die nicht wissen, wohin mit ihren starken Gefühlen. Im 17. wie 21. Jahrhundert: LIEBE! Schöner Schein. Brodelndes Sein. In der Shopping Mall um die Ecke.

Mit ironischem Realismus zelebriert Watanabe das wohlgeordnet triste Gewimmel aus Sicherheitsleuten, Touristen, Reinigungskräften, Angestellten, Obdachlosen. Auf „Rondeau“ und „Air“ aus Purcells Abdelazer baggert schon Dr. Nice die Blondine Cecilia an, die gerade vergeblich vom Geldautomaten eine Auszahlung erfleht hatte. Für ein paar Scheine verkauft sie einen Kuss, „Sweeter Than Roses“.

Klamottig tumultös agieren nun auch alle anderen Frauen ihre Zuneigung zum Schönheitschirurgen aus. Klar, er ist reich, attraktiv, angesehen und artikuliert sich mit bezauberndem Alt. Während einer Betriebsversammlung wird – LIEBE! – die „die süße Gunst“ gepriesen, die „keine Freuden übertreffen“ kann: Passt wunderbar. Auch, wenn dann die vom Mr. verlassene Mrs. Nice nur noch „ewig, ewig weinen“ will – „O Let Me Weep“ –, während ihr Sohn das nächste Level mit seinem Gameboy anstrebt.

Aus moralischen Gründen muss nun auch mal was Apokalyptisches passieren, Wunderland wird abgebrannt, es erklingt der Trauermarsch für Queen Mary. Alle Figuren sind jetzt entweder blind und/oder gelähmt und/oder verrückt – der Angestelltencharakter 2004 ist in der Psychiatrie angekommen. Trotz dieser plumpen Soziopathologie: ein unterhaltsamer Abend. Geradezu beispielhaft, wie sich das Geschehen aus der Musik entwickelt, wie die Musik das Geschehen kommentiert. Und klanglich eine einzige Freude. Jens Fischer

Staatsoper Hannover: „Evening Hymn“. Nächste Aufführungen: Heute und am 28. 2. sowie 13., 16.+ 25. 3., jeweils 19.30 Uhr